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Ein Tag aus meiner Kindheit...
„Irka, geh nach Hause, deine Oma wartet schon mit der Bratpfanne voller gebratener Nadeln!“
Damals verstand ich nicht, was genau dieser Satz bedeuten sollte. Doch ich spürte sofort, dass er nicht freundlich gemeint war. Die Worte trafen mich, auch wenn ich sie nicht ganz einordnen konnte.
Ich war vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, und die Jungs, die das riefen, gehörten zu einer älteren Klasse. Sie waren etwa 14 und ein Schuljahr über mir.
Es war nicht das erste Mal, dass sie mich ärgerten – mit seltsamen Sprüchen, spöttischem Lachen und abwertenden Blicken. Ich merkte, wie sich jedes dieser Worte wie ein kleiner Stich anfühlte, ein Angriff, der mich verunsichern sollte.
Damals begann ich zu begreifen, dass Sprache Macht hat – und dass Hänseleien oft viel tiefer gehen als es zunächst scheint.
Und so machte ich mich auf den Weg nach Hause, wie jeden Abend, denn ich musste immer zu einer bestimmten Uhrzeit zurück sein.
Länger als bis neun Uhr abends durfte ich nicht draußen bleiben – selbst im Sommer nicht. Dabei lebten wir in einem Dorf, wo das Leben an warmen Abenden eigentlich erst spät begann.
Viele Kinder/Jugendliche in meinem Alter kamen oft erst gegen neun nach draußen. Sie halfen vorher noch ihren Familien – im Haushalt, im Garten oder auf dem Feld. Erst danach trafen sie sich, um Volleyball zu spielen oder andere Spiele zu machen, die bei uns im Dorf Tradition hatten.
Ich dagegen war immer die Erste, die nach Hause musste.
Meine Großmutter war streng – aus Liebe, wie ich heute weiß, aber damals empfand ich es nur als einengend. Sie machte sich ständig Sorgen um mich, wollte nicht, dass mir etwas passiert.
Ich fühlte mich ausgeschlossen. Für mich war es, als würde ich das echte Leben verpassen. Als Kind empfand ich ihre Fürsorge als Freiheitsraub.
An dieser Stelle fragst du dich bestimmt, warum es meine Großmutter war – und nicht meine Eltern – zu der ich nach Hause ging...
Erstes Kapitel – Wie alles begann
Ich erinnere mich an einen Abend, als meine Großmutter mich in einer alten Eisenbadewanne wusch.
Das war in der Küche, in dem Raum, wo der Kaminofen stand, auf dem sie das Wasser fürs Baden erhitzte. Das Wasser wurde dann in die Wanne gegossen, und ich erinnere mich bis heute daran, wie heiß es war. Mein kleiner Po – wie meine Großmutter zärtlich sagte, „wie ein Erdbeerchen“ – wurde in dieser Wanne beinahe verbrannt.
Wenn das Baden vorbei war, hob sie mich aus der Wanne und wickelte mich sofort in ein großes Handtuch, damit ich nicht fror – vielleicht auch, damit ich nicht nackt durchs Haus lief.
Dann trug sie mich ins Wohnzimmer. Dort lag schon mein Großvater auf dem Sofa und wartete auf mich. Doch bevor ich mit ihm spielen durfte, zog mich die Großmutter gleich dort – neben dem Sofa – an. Ich erinnere mich genau, wie sie mir ein T-Shirt mit rot-orangenen Punkten über den Kopf zog, wie vorsichtig sie meine kleinen Arme in die Ärmel führte. Und schon in diesem Moment spürte ich freudige Aufregung. Ich zog Strumpfhosen an – weder Röcke noch Hosen –, so war es in meinem Alter üblich.
Wenn ich ganz angezogen war, lächelte mir mein Großvater zu. Er lag da, die Beine leicht angewinkelt, die Hände gemütlich hinter dem Kopf verschränkt. Ich kletterte zu ihm, setzte mich auf seinen Schoß, so wie es Kinder tun, und begann spielerisch auf ihm zu hüpfen. Er lachte, und ich fühlte mich sicher und geliebt.
Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war – vielleicht vier Jahre. Mein Großvater starb im Sommer 1990, ich war da viereinhalb. Ich habe nur wenige Erinnerungen an ihn, aber dieser Moment – er ist einer der wenigen, die mir geblieben sind – klar und warm, wie ein Licht im Nebel meiner frühen Kindheit.
Er hat mich sehr geliebt.
Und viele Jahre später erfuhr ich, dass mein Großvater damals zu meinen Eltern gesagt hatte:
„Ich will Ira.“Er wollte, dass ich bei Oma und Opa lebte.
Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat.
Ich weiß nicht, was er in mir gesehen hat – aber irgendetwas war da.
Etwas, das tief in mir lebte. Etwas, das ich selbst damals noch nicht kannte. Aber ich spürte es schon: Dieses Etwas war besonders.
Doch genau dieses Etwas sollte verborgen bleiben.
Es durfte nicht wachsen, nicht leuchten, nicht gehört werden. Viele spürten das – vielleicht unbewusst – und versuchten, es zum Schweigen zu bringen.
Von Anfang an war alles so eingerichtet, dass ich es in mir niemals entdecken würde. Damit ich nicht glauben konnte, dass meine Seele eine besondere Aufgabe hat.
Aber davon später…
Es geschah an einem warmen Sommertag, als mein Großvater starb.
Er hatte Lungenkrebs, aber ich erinnere mich kaum an seine Krankheit. Ich war zu klein, um zu begreifen, was da geschah.
Aber ich werde nie jene Nacht vergessen, in der man uns – mich und meine drei Schwestern – weckte.
Unsere Eltern wurden von den Nachbarn meiner Großeltern benachrichtigt. Sie hatten die Nachricht überbracht: Großvater war gestorben.
Ich erinnere mich, wie wir im Flur standen – alle vier, verschlafen, verwirrt. Das grelle Licht tat in den Augen weh – ich war gerade erst aufgewacht. Ich verstand nicht, was los war – ich spürte nur die Stille. Und eine gewisse Traurigkeit.
Ein paar Tage vergingen bis zur Beerdigung. Daran habe ich nur vage, neblige Erinnerungen.
An dem Tag, als man mich aus dem Kindergarten abholte, war es nicht Mama und auch nicht Papa – es war meine ältere Schwester. Sie kam, um mich zu holen, während meine zwei anderen Schwestern zu Hause blieben. Allein. Eingeschlossen.
Warum das so war – das weiß ich bis heute nicht.
Was dann geschah, ist wie im Dunkeln.
Von da an war alles wie ausgelöscht – als hätte die Erinnerung die Tür zugeschlagen.
Aber… ich sah ihn noch einmal.
Diese Erinnerung hat sich so deutlich in meinem Kopf eingeprägt, dass ich bis heute nicht weiß – ist es wirklich passiert oder war es nur ein Traum?
Es war bereits einige Zeit nach dem Tod meines Großvaters.
Meine Großmutter bat meine Eltern, mich zu ihr ziehen zu lassen.
Sie hielt die Stille im Haus nicht mehr aus.
Die Räume waren leer, schwer, fast unheimlich. Sie hörte Geräusche, meinte, Türen gingen auf. Sie konnte nicht mehr allein sein.
In ihrer Nähe musste jemand sein – lebendig, atmend, sprechend, sich bewegend.
Sich um mich zu kümmern beruhigte sie, half ihr, durch die Tage zu kommen.
Ob das für uns beide eine gute Entscheidung war – schwer zu sagen.
Damals fragte niemand, ob ein Kind in so einer Situation überfordert oder überlastet sein könnte.
Eine Rolle zu übernehmen, ist das eine.
Aber von den eigenen Eltern getrennt zu werden – das ist etwas ganz anderes.
Später erzählte mir meine ältere Schwester etwas, das ich selbst längst aus meinem Gedächtnis verdrängt hatte:
In der Zeit, als man mich zur Großmutter gebracht hatte, durchlebte ich eine echte emotionale Sturmflut – auch wenn ich es damals nicht hätte so nennen können. Ich wurde bei der Großmutter einquartiert, und gegen Mitternacht überkam mich plötzlich eine solche innere Not, dass ich hemmungslos zu weinen begann. Ich weinte nach meiner Mutter, ich wollte zurück – zu ihr, obwohl es nichts gab, was mich wirklich hätte trösten können.
Und das geschah nicht nur an einem Abend.
Es waren Nächte – über ein halbes Jahr hinweg – in denen ich so sehr nach meiner Mutter schrie, dass ich fast an meinem eigenen Schluchzen erstickte. Ich wollte einfach nur zurück zu ihr. Mit meinem ganzen kleinen Körper.
Doch kaum war ich wieder bei ihr, begann alles von vorn – nur diesmal mit vertauschten Rollen.
Ich schrie nach der Großmutter.
Ich schrie mich wund nach dem einzigen Menschen, bei dem ich mich sicher gefühlt hatte.
Ich wollte zurück – zurück in ihre Wärme, in ihre ruhige, wachsame Gegenwart.
Als würde mein Herz zwischen zwei Welten hin- und hergerissen, ohne zu wissen, zu welcher es wirklich gehört. In der einen sehnte ich mich nach der anderen – und in der anderen vermisste ich die erste.
Ich war zu klein, um all das zu verstehen.
Aber mein Körper erinnerte sich.
Er erinnerte sich an die Angst, an den Schmerz, an das Gefühl des Verlassen-Seins – ganz gleich, auf welcher Seite ich war.
Und ich schrie. Immer wieder.
Nach Liebe. Nach Halt. Nach einem Zuhause, das sich nicht bei jeder Veränderung auflöste.
Ich weiß nicht mehr, wann genau dieser Moment kam, in dem dieses Verlangen verschwand – oder, besser gesagt, in dem ich es losließ. Ich erinnere mich nicht, wann ich die Entscheidung traf, nicht mehr zurückwollen zu wollen.
Es war, als wäre diese Entscheidung still und leise in mein Herz eingezogen.
Bis heute frage ich mich: War es wirklich meine Entscheidung – bei der Großmutter zu bleiben?
Oder war es das frühe Begreifen eines kleinen Kindes, dass die Mutter mich nicht stark genug liebte, um mich bei sich zu behalten? Dass es für sie leichter war, mich wegzugeben – aus den Augen, aus dem Sinn?
Ich denke darüber nach, weil meine Großmutter mir später erzählte, dass es diesen einen bestimmten Tag gab, an dem meine Mutter mich weggeschickt hat. Ich hatte sie um etwas zu essen gebeten, aber sie konnte mir nichts geben. Stattdessen sagte sie:
„Geh zur Großmutter. Komm nicht mehr zurück.“
Und in genau diesem Moment – ich war vielleicht viereinhalb, vielleicht fünf Jahre alt – verstand ich etwas, das kein Kind verstehen sollte:
Dass die Liebe meiner Eltern nicht tief genug war.
Dass es mir bei der Großmutter besser gehen würde – vielleicht für immer.
War das die Logik eines Kindes?
Oder die Seele, die sich ihre Eltern vor der Geburt selbst ausgesucht hatte – und in diesem Augenblick erkannte, dass sie sich nun selbst würde schützen müssen?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß eines:
Nur ein sehr weises Kind kann eine solche Entscheidung treffen.
Wie sich so eine Erfahrung auf den Verstand und die Seele eines Kindes auswirkt – das lässt sich in dieser Geschichte nachverfolgen
.
Und diejenigen, die meine Familie kannten, die wussten, woher ich kam – für sie war das vielleicht gar keine Frage. Für viele war es einfach nur ungerecht…
Ich war das Kind, das weggeholt wurde – gepflegt, satt, umsorgt.
Meine dreijährige Schwester blieb bei unseren Eltern – dort, wo es oft am Nötigsten fehlte.
Im Dorf wurde getuschelt:
„Warum nur Irina? Warum nicht beide?“
So entstand eine leise Unzufriedenheit – Neid auf meine Großmutter, aber auch auf mich.
Ich spürte, dass selbst zwischen uns Schwestern ein Riss entstanden war.
Meine ältere Schwester gab es mir später ganz offen zu: dass sie mir damals neidisch war, mich dafür hasste. Nicht mich als Mensch – sondern das, was ich hatte. Dass ich es besser hatte, während sie oft hungrig ins Bett ging. Ich hatte mehr – und das reichte aus, um ihre Verletzung zu nähren.
Unsere Eltern kümmerte das nicht.
Der Vater trank, und die Mutter war emotional abwesend, überfordert – vielleicht psychisch krank. Keine Diagnose, aber jeder, der mit ihr sprach, spürte es: Irgendetwas stimmte nicht. Sie war nicht präsent, nicht liebevoll, nicht schützend – eine Mutter nur dem Namen nach.
Es fehlte an Essen. Es fehlte an Wärme.
Für meine Schwestern war ich das Kind, das „mehr Glück gehabt“ hatte. Und dieser stille Neid, diese unausgesprochene Bitterkeit wuchsen mit ihnen heran – wie ein Schatten, der nie ganz verschwand.
Selbst die Menschen im Dorf konnten nicht verstehen, warum ausgerechnet ich – und nicht jemand anderes – bei der Großmutter lebte. Für sie war das unbegreiflich. Für mich: schicksalhaft.
Und ich spürte es. Mein ganzes Leben lang.
Ich konnte schon immer Energie wahrnehmen.
Ich brauchte keine Worte, um zu spüren, was verborgen lag.
Und dann war da diese eine Nacht.
Ich wachte plötzlich auf. Das Zimmer war still, der Mondschein fiel silbern durchs Fenster.
Und in diesem Licht sah ich ihn:
Eine hohe, männliche Gestalt – ein Schatten, der direkt am Fenster stand.
Es war mein Großvater.
Großmutters Bett stand direkt gegenüber dem Fenster, und ich sah ganz deutlich, wie sich diese Gestalt langsam in ihre Richtung bewegte.
Ich lag da wie gelähmt. Mein Herz schlug wild, aber mein Körper rührte sich nicht.
Die Angst war so überwältigend, dass ich mich unter die Decke verkroch – als könnte sie mich vor allem beschützen.
Dann schlief ich ein.
Ob es wirklich geschah – ich weiß es nicht.
Aber es hat sich in mich eingebrannt – so lebendig, so real, als wäre es nicht bloß Einbildung gewesen, sondern etwas, das ich tatsächlich gesehen habe.
Später, als ich älter war, erzählte mir meine Großmutter etwas, das sie mir damals nicht zu sagen gewagt hatte:
Dass ich oft nachts aufgewacht und weinend ins Wohnzimmer gelaufen sei, weil der Großvater mich angeblich gezwickt hätte – um mich aus dem Bett zu vertreiben. Es war schließlich sein Bett gewesen.
Sie sagte auch, dass sie es bis heute bereut, mich damals nicht zu sich ins Bett genommen zu haben, wenn ich weinte. Dass sie bis heute nicht versteht, warum sie mich allein ließ, obwohl sie meine Tränen hörte.
Ich erinnere mich nicht an das Zwicken selbst.
Aber ich erinnere mich an das Gefühl – dass da noch jemand war.
Nicht unheimlich.
Einfach nur: da.
Es war meine erste bewusste Begegnung mit dem Jenseitigen, die ich mir bewahren konnte. Und ich bin sicher, dass ich mich daran erinnern sollte – damit dieses Bild mich jedes Mal daran erinnert, wenn ich beginne, an meinen Gaben zu zweifeln.
Damit ich verstehe, aus welcher Ahnenlinie ich diese Fähigkeit geerbt habe – und welche Aufgabe mir damit gegeben wurde…
Zweites Kapitel
Irgendwann legte sich der Zwiespalt meines inneren Hin und Her – und ich wurde zu einer Tochter meiner Großmutter.
Nicht durch Geburt – sondern durch all das, was uns miteinander verband.
Ich wurde eine fleißige Schülerin, wissbegierig, ehrgeizig. In der Schule gehörte ich zu den Besten.
Mein Erfolg wurde ganz unterschiedlich aufgenommen. Auch innerhalb meiner Familie.
Meine Großmutter selbst hatte das niemals erwartet.
Sie hatte keine Ausbildung. Während des Zweiten Weltkriegs konnte sie nur zwei Klassen abschließen.
Die Familie war so arm, dass sie keine Winterschuhe besaß, um zur Schule zu gehen.
Und so blieb sie zuhause – mit Grundkenntnissen in Lesen, Schreiben und Rechnen. Mehr war nicht möglich.
Dass ich einmal zu den Besten der Klasse gehören würde, das war für sie kaum vorstellbar. Doch nach jedem Elternabend kam sie zufrieden nach Hause.
Mit einem einfachen Satz, der für mich mehr war als jede Auszeichnung: „Du wurdest wieder gelobt.“
Es war, als wäre es gar nicht nötig, dass sie dorthin ging – ihre Haltung war ruhig, voller Vertrauen. Meine Leistungen waren konstant, stabil und sehr gut.
Was sie mir nie direkt sagte, aber was mir meine Lehrerin eines Tages anvertraute: Immer wenn meine Großmutter über mich sprach, sagte sie diesen einen Satz: „Der Gott selbst hat mir Irina geschickt.“
Diese Worte haben sich tief in mein Herz eingebrannt.
Als wäre ich ein Geschenk. Ein geheimer Plan, den nur sie und das Universum kannten.
Ein leises Wissen, das zwischen uns lebte.
Etwas, das weder erklärt noch bewiesen werden musste.
Ich habe sie einmal selbst gefragt, ob sie das wirklich gesagt hat.
Sie wich mir aus. Lächelte nur. Vielleicht, weil sie wusste, dass manche Dinge sich nicht wiederholen lassen.
Weil sie bereits wahr sind, in dem Moment, in dem man sie fühlt.
Doch zurück zu meiner streberischen Art…
Jeder, der vom Land kommt, weiß, wie kalt die Winter in Kasachstan waren. Manchmal waren die Schneestürme so heftig, dass man kaum einen Meter weit sehen konnte. Der Wind drückte gegen die Fenster, die Wege wurden von Schnee und Eis blockiert.
Ich erinnere mich an einen dieser Tage. Ich war wahrscheinlich in der ersten oder zweiten Klasse, als meine Großmutter mich eigentlich gar nicht zur Schule bringen wollte. Es galt als gesunder Menschenverstand, dass der Unterricht bei solchem Wetter ausfiel.
Aber ich war so verantwortungsvoll – oder vielleicht auch so ängstlich, als schlechte Schülerin zu gelten –, dass ich weinte und bettelte, bis sie nachgab.
Und sie brachte mich tatsächlich zur Schule – durch Schnee und Sturm, die Augen zusammengekniffen, eingehüllt in Mantel und Tücher, hielt sie mich fest an der Hand.
Dort wurde sie von der Schulleiterin zurechtgewiesen: „Wie kann man ein Kind bei diesem Wetter zur Schule bringen?“
„Sie hat so geweint“, sagte meine Großmutter mit Scham. Wir wurden nach Hause geschickt…
Ich war geradezu besessen von der Schule.
Ich habe es geliebt, dort zu sein – mit den Büchern, den Lehrern, dem festen Rhythmus.
Manche würden das nicht glauben. Manche würden vielleicht denken: Das ist doch verrückt.
Aber ich war eben Streberin.
Was die Noten betrifft – und natürlich auch mein soziales Verhalten.
Bis ich älter wurde. Und der Einfluss von außen ein anderer.
Oder vielleicht wollte ich einfach dazugehören.
Doch tief in meiner Seele – da war ich immer eine Rebellin.
Aber bis dieser Moment kam, war ich eine Vorzeigeschülerin.
Viele im Dorf flüsterten am Ende des Schuljahres – weil die besten Schüler damals eine Gramota bekamen, eine Urkunde, und vor die ganze Schule gerufen wurden, um sie entgegenzunehmen.
Man wurde beim Namen genannt – und mein Name wurde jedes Jahr aufgerufen, bis wir Kasachstan verließen.
Doch wie das Leben manchmal spielt, erzeugten meine Noten – Jahr für Jahr lauter Einsen (im deutschen System) oder eben lauter Fünfen (im kasachischen, wo die Fünf das Beste war) – auch andere Reaktionen.
Denn der Name Warkentin war im Dorf kein einfacher Name. Mein Vater galt inzwischen als Dorfbetrunkener.
Und meine Mutter – na ja, sie wurde nicht gerade als Vorzeigefrau oder Ehefrau gesehen.
Dass ein Kind solcher Eltern ein Vorzeigekind sein konnte, war für viele schwer zu akzeptieren.
Besonders, wenn dieses Kind von keiner Unterstützung von außen profitierte … denn alles kam aus meinem Inneren.
Später erzählte mir meine Großmutter, dass ältere Damen im Dorf bei der nächsten Urkundenübergabe hinter vorgehaltener Hand getuschelt hätten – halb erstaunt, halb spöttisch, mit einem Ton, in dem Neid und Missgunst mitschwangen:
„Oh Baba, sie hat tatsächlich eine Einser-Schülerin großgezogen …“
Und meine Oma habe dann nur leise geantwortet – nicht trotzig, nicht stolz, sondern schlicht: „Das war sie ganz allein. Ich habe doch selbst keine Schulbildung, wie kann ich ihr helfen?!“
Und das stimmte. Aber vielleicht war es gerade das, was mich antrieb. Ich war so begeistert vom Lernen, dass ich ihr sogar mit einem Buch in den Erdkeller folgte.
Unser Keller – wir nannten ihn Pogreb – war wie ein kleiner Raum unter dem Fußboden. Dort lagerten wir den ganzen Winter über Eingelegtes aus dem eigenen Garten. Kartoffeln, die wir auf dem eigenen Feld gepflanzt und geerntet hatten, kamen in Säcke, die dann in den Erdkeller getragen wurden – damit wir auch im Winter etwas zu essen hatten.
Ich erinnere mich an eine dieser Situationen: Meine Großmutter stieg hinunter, um Kartoffeln zu holen. Ich, mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand, beugte mich über die Öffnung, hockte mich ans Loch im Boden und las ihr laut daraus vor.
Sie machte sich Sorgen, dass ich hineinstürzen könnte – sie rief: „Pass auf, dass du nicht umfällst!” Aber ich wollte unbedingt vorlesen. Ich wollte ihr zeigen, wie gut ich lesen konnte.
Ich wollte es mit ihr teilen.
Meine Vorliebe fürs Lesen hatte ich schon immer. In den Sommerferien habe ich mir fast alle Bücher aus der Dorfbibliothek ausgeliehen – und gelesen. Ich fand in den Büchern meine Ruhe, eine Welt der Fantasie. Mein Verstand und meine Gedanken liebten es, in eine andere Welt einzutauchen, wo alles möglich war.
Es war so anders als das, was ich aus unserem Dorf kannte. Bis wir Kasachstan verließen, war ich nie in einer Stadt gewesen. Ich war so abgegrenzt von so vielem – und wie in einem Käfig gefangen, gehalten von den Ängsten meiner Umgebung.
Und deswegen gaben mir Bücher mehr Zuflucht, als jede Freundschaft damals es je ersetzen konnte.
Ich wollte gebildet sein. Dieses Verständnis, dass Bücher kluge Menschen hervorbringen, saß tief in mir – schon seit der Kindheit. Und klug sein wollte ich schon immer. Ich weiß nicht genau, woher ich das hatte … vielleicht auch von bestimmten Lehrerinnen.
Aber ich war eine Leseratte. Und wer mich kennt, weiß: Bis heute wähle ich lieber ein Buch als irgendein Treffen, als sinnlos Zeit zu vertrödeln oder mir dumme Netflix-Shows anzusehen.
Bücher haben mir geholfen. Sie haben mir gezeigt, wie man dieses Leben besser machen kann. Sie haben mich getragen – besonders dann, wenn Menschen versucht haben, mich klein zu halten. Wenn sie mir das Gefühl geben wollten, dass ich nichts wert bin.
Und sie haben es oft versucht – jede und jeder auf ihre eigene Weise. „Was glaubst du wer du bist?“ „Du hast nicht das, was man braucht, um erfolgreich zu sein.“ „Prinzessin, pass auf– je höher die Krone, desto tiefer der Fall.“ „Du müsstest schon aus einer wohlhabenden Familie stammen, wenn du wirklich Einfluss haben willst … "oder dazugehören ..."
Manche dieser Behauptungen habe ich bewusst geformt, andere sind wörtlich übernommen worden. Wie schon gesagt: Ich konnte schon immer die Energie lesen. Es ist schon merkwürdig: Je mehr ich mich mit mir selbst auseinandersetzte, desto weniger wollte ich dazugehören. Doch das wird sich im Laufe dieses Buches noch deutlich zeigen …
Es gab aber auch traurige Momente mit den Büchern – manche kann man als traumatisch bezeichnen. Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, vielleicht sechs oder sieben Jahre, denn es ging um die Fibel – das erste Lesebuch, das jedes Kind in der Sowjetunion in die Hand bekam. An jenem Tag war ich bei meinen Eltern zu Besuch. Sie wohnten nur zwei Straßen weiter und ich ging oft hin, um meine Geschwister zu sehen. An diesem Nachmittag waren nur meine Mutter und ich zu Hause. Natürlich hatte ich meine Lesefibel dabei – so streberisch war ich. Ich murmelte leise vor mich hin, weil mein Lesen noch nicht sicher war, aber ich übte eifrig weiter.
Irgendwann wurde meine Mutter ungeduldig. Sie ermahnte mich mehrmals, aufzuhören, weil mein Gemurmel sie störte. Aber ich las weiter – und dann riss sie mir das Buch aus den Händen und warf es wütend auf das Feuer im alten Kaminofen. Die Flammen verschlangen das Buch sofort …
Ich schrie auf und begann zu weinen. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, sagte sie kalt zu mir: „Hör auf zu heulen, sonst gibt es Schläge.“
Diese Szene jagt vielen einen Schauer über den Rücken – allein die Vorstellung, dass eine Mutter ihrem Kind so etwas antut. Doch hinter dieser Handlung stecken so viele Fragen: Welche Art ist ihr Schmerz? Welches Bildungsniveau hat sie? Wo ist ihr Mitgefühl, ihre emotionale Stabilität? Und wie sehr prägt so etwas ein Kind?
Ja, dieser Moment brannte in mein Gedächtnis ein. Aber ich habe das Lesen nicht verlernt. Im Gegenteil: Mein Verlangen danach ist nur noch stärker geworden. Ironischerweise wuchs aus der Flamme, die meine Kraft vernichten sollte, meine eigene Stärke. Heute arbeite ich mit Feuerenergie – das, was damals meine Leidenschaft zerstören sollte, hat mich entfacht.
In meiner Kindheit kam es immer wieder vor, dass meine Mutter mir körperlich Grenzen setzte – manchmal auch auf harte Weise.
Und es gab viele Momente, die ich mit der Zeit verdrängt habe – bewusst und unbewusst. Eine Situation ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Ich stürmte völlig außer Atem durch die Haustür, verfolgt von ein paar Jungs aus dem Dorf, die ich zuvor gereizt hatte. Die Tür fiel zu – sie war schon in so schlechtem Zustand, dass selbst die Wucht eines zwölfjährigen Mädchens ausreichte, sie zu beschädigen.
Meine Mutter reagierte heftig – aus Wut und emotionaler Überforderung schlug sie mir ins Gesicht.
Dann begannen wir zu streiten – laut, impulsiv, voller gegenseitiger Vorwürfe. Ich erinnere mich, dass sie sagte: „Ich bin deine Mutter.“ Und ich entgegnete ihr: „Nicht die Frau, die ein Kind zur Welt bringt, ist die Mutter – sondern die, die es großzieht.“
Autsch! Das saß tief.
Sie war überzeugt, ich hätte diesen Satz von meiner Großmutter gelernt. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr genau, woher ich ihn hatte. Ich hatte damals nur den Mut, ihn auszusprechen – aber nicht die emotionale Reife, die Wirkung meiner Worte wirklich zu verstehen.
Heute würde ich das wohl anders formulieren – mit mehr Bewusstsein für die Verletzlichkeit, die in einer Mutter mitschwingt. Oder vielleicht würde ich es gar nicht sagen, so viel hat sich verändert.
Heute sehe ich vieles mit anderen Augen. Nicht, dass ich das Weggeben unterstütze, aber ich beginne zu verstehen, unter welchen Umständen es geschehen ist. Ich begreife langsam, wie sehr Überforderung, fehlende Unterstützung und inneres Chaos eine Rolle spielten.
Meine Großmutter erzählt bis heute, wie ich oft mit blauen Flecken nach Hause kam, wenn meine Mutter einen ihrer Ausbrüche hatte. Ich selbst erinnere mich kaum daran – nicht, weil es nicht passiert ist, sondern weil ich mir früh antrainiert habe, solche Erinnerungen auszublenden.
Später lernte ich, dass das eine bekannte psychologische Reaktion ist: Ein traumatisiertes Kind blendet das Schmerzvolle aus, um zu überleben. Um irgendwie weiterzumachen.
Ich erinnere mich an einen Moment, als ich meiner Nachbarin, auf deren Kind ich damals aufgepasst habe, erzählt habe, dass meine Großmutter immer schreckliche Sachen über meine Mutter sagt. Sie konnte nicht verstehen, warum ich dadurch keinen Bezug zu meiner Mutter hatte, und meinte, meine Oma solle das nicht tun, weil meine Mutter eben meine Mutter sei.
Damals verstand ich das alles nicht. Und wie sehr die eingeprägte Weisheit anderer meine Gefühle und meine Beziehung zu meinen Eltern beeinflusst hat, wurde mir erst später bewusst.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Großmutter nicht ganz nachvollziehen konnte, dass sie damit ein Kind emotional vorprogrammierte. Sie sagte nur die Wahrheit, nichts davon war gelogen. Doch es fehlte ihr die emotionale Reife, zu verstehen, wie ein Kind das aufnimmt und wie sich daraus eine Meinung bildet.
Dies hier ist meine Erinnerung – keine Schuldzuweisung oder Anklage. Es sind Umstände, die meine Gefühle gegenüber meinen Eltern geprägt und beeinflusst haben, neben meiner persönlichen Erfahrungen, die ich selbst machen durfte.
Zwischen meinem zwölften und vierzehnten Lebensjahr begann ich, die Jungs im Dorf bewusst herauszufordern. Ich wurde frech, provozierte sie – und liebte das Gefühl, gejagt zu werden. Ich ließ mich auf Rangeleien ein, körperlich, laut, wild. Etwas in mir wurde in diesen Momenten lebendig. Ich wusste nicht, was es war, konnte es nicht benennen. Erst viele Jahre später, über dreißig, als ich in Kanada mit Kickboxen begann, erkannte ich: Das war mein innerer Kampfgeist.
Ich blühte regelrecht auf, wenn ich mich körperlich fordern konnte. Diese Energie, dieser Drang nach Bewegung und Durchsetzung – das war ich. Schon immer. Nur hatte es in meiner Kindheit nie einen Ort gegeben, an dem diese Kraft sicher gelebt werden durfte. Abgesehen von der körperlichen Arbeit im Garten, im Haushalt und all dem, was eben anfällt – da war nichts. Ich tat, was getan werden musste: Pflanzen, Unkraut jäten, Wäsche waschen, Haushalt. Tag für Tag. Ich habe diesen Tätigkeiten nie Liebe entgegengebracht – sie waren bloße Pflicht, keine Herzenssache. Mechanisch, still, erwartungsgemäß. Ich war vorbildlich.
Meine Großmutter machte sich jedoch aus ihrer Angst heraus große Sorgen. Ich war dreizehn, vielleicht vierzehn, und begann, auf die Jungs anders zu wirken. Sie wollte mich beschützen – nicht nur vor ihnen, sondern vor dem, was ich selbst noch nicht einschätzen konnte.Ich verstand ihre Angst damals nicht. Ich wollte einfach nur raufen, nicht flirten. Ich sehnte mich nach einer direkten, sportlichen Auseinandersetzung, nicht nach Nähe im romantischen Sinn. Aber mit einem gehbehinderten Vater, einer emotional überforderten Mutter und einer alten Großmutter war ich – zumindest theoretisch – ein leichtes Ziel. Und genau das war die Sorge meiner Oma.
In unserem Dorf mit seinen rund 3000 Einwohnern gab es kaum Möglichkeiten, sich in einem Verein anzumelden oder seine Energie in sinnvolle Bahnen zu lenken. Vielleicht habe ich deshalb so früh Zuflucht in Büchern gesucht. Ich hatte Freunde – ja. Aber mit den Mädchen in meiner Klasse kam ich selten gut klar. Es war ein ständiges Auf und Ab. Immer wieder gab es Konflikte, immer wieder fühlte ich mich ausgeschlossen. Ich wurde auch öfter ausgegrenzt, Kinder können sehr fies sein.
Der Grund war einfach: Ich war anders. Ich war oft wie aus der Zeit gefallen – das Leben mit meiner Großmutter war langsam, altmodisch, weit weg von dem, was bei anderen Mädchen in meinem Alter gerade „in“ war. Ich war ein kluges Kind aus einem Elternhaus, aus dem man – nach gängiger Meinung – keine „Erfolgsgeschichten“ erwarten durfte. Aber man sah mein Potenzial. Und das machte Angst. Ich spürte den Neid. Vielleicht sogar Eifersucht. Gefühle, die nicht aus den Kindern kamen –sondern von den Eltern übernommen wurden. Und so wuchs in mir dieses Gefühl: Ich bin nicht gut genug. Trotz aller Leistungen, trotz aller Anerkennung. Denn von Geburt an fehlte die Liebe – und draußen wurde das, was in mir leuchtete, unterdrückt.
Ich war das Kind, das auf Elternabenden hervorgehoben wurde. Ich habe an unzähligen Wettbewerben teilgenommen – und sehr oft den ersten, nur manchmal den zweiten Platz belegt.
Ich konnte alles. Besonders in der Sprache lag meine Stärke: Gedichte, Reden, emotionale Darstellung – das war mein Terrain. Wie interessant im Rückblick: Genau diese Fähigkeit entspricht der Zahl Fünf – numerologisch gesehen. Und ich bin am 23. geboren, was ebenfalls eine 5 ergibt. Und genau das wurde mir genommen.
Die Stärke meines Ausdrucks, meine Gabe im Wort, wurde später im Leben zu meiner Schwäche. Erst vor kurzem habe ich verstanden, warum diese Gabe unterdrückt werden musste – nicht nur in der physischen Welt, sondern mehr auf der feinstofflichen, spirituellen Ebene.
Und wie man es erwarten kann, hat meine Liebe zum Lernen und zur Bildung auch mein Verständnis von der Welt geprägt und mich immer weitergeführt – natürlich Hand in Hand mit meiner inneren Stimme, die unglaublich stark ist und jeden Tag stärker wird.
Ich war so stolz darauf, dass mein Vater keinen handwerklichen Beruf ausgeübt hat. (Nicht, dass Handwerk etwas Schlechtes wäre, aber ich hatte immer großen Respekt vor intellektueller Leistung, dem Einsatz eigener Kraft mit Kopf und Sprache.) Das hat mich tief beeindruckt. Wahrscheinlich habe ich diese Haltung aus meinen Büchern übernommen, denn in meiner Familie war niemand in einem solchen Feld tätig.
Mein Vater hatte Buchhaltung gelernt und war der Einzige in der Familie, dem eine Kopftätigkeit möglich war – weil er gehbehindert war und als Mann keinen Handwerkerjob ausüben konnte. Mein Großvater hatte früh Druck gemacht, dass mein Vater etwas Erlerntes mache, etwas, „wo man mit dem Kopf arbeitet“ – vielleicht auch, weil er selbst das nie getan hatte.
Wie dem auch sei: Ich verstand schon sehr früh, dass er, obwohl er in einem Dorf-Autohaus arbeitete und Papierkram erledigte, irgendwie doch dazugehörte. Trotzdem galt er nicht als solcher – besonders nicht, nachdem er in die Trinkerei rutschte und zum berüchtigtsten Alkoholiker des Dorfes wurde. Ein Mann, der vom Schicksal bestraft wurde und sowieso nicht als richtiger Mann angesehen wurde, hat wahrscheinlich aus der Angst, nicht dazuzugehören, auch der Versuchung nachgegeben, von den anderen Männern im Dorf beeinflusst zu werden – dass Alkohol „richtige Männer“ macht, und wer am selben Tisch die Gläser umkippt, ist einer von allen.
So verging meine Kindheit, und die meiner Geschwister, während er trank, sein Geld an andere Leute weitergab, um dazuzugehören, um eine gewisse Art von Anerkennung zu spüren. Es ist fraglich, ob er es auch getan hat, weil er mit seiner Situation nicht klarkam und sich als Opfer stellte und so sein Leben gestaltete.
Irgendwann begriff ich, dass er nicht der Vorzeige-Vater war, den ich mir ausgemalt hatte. Ich erinnere mich an den Tag, als er zum Essen zu meiner Oma kam – während meine Mutter und meine Geschwister an diesem Abend wie an vielen anderen nichts zu essen hatten. Meine Großmutter sorgte ein Leben lang für ihn – kümmerte sich sogar um seine Wäsche, weil meine Mutter es nicht tat (oder nicht nach seinen Vorstellungen).
Das kann ich meinem Vater nicht übel nehmen: Meine Oma war sauber und ordentlich, und sie wollte, dass er genauso aussah. Doch die Verantwortung für seine eigene Familie übernahm mein Vater nie – wie auch, wenn er selbst wie ein Kind behandelt wurde? Er war ja schließlich gehbehindert – vom Schicksal bestraft, wie meine Oma immer sagte.
Man kann das mütterliche Herz schon verstehen, auch wenn seine Ausgangssituation kein Grund für sein Verhalten war. So entwickelten sich in mir die Glaubenssätze, dass schwache Männer nichts in meinem Leben verloren haben. Und so entschied ich unbewusst, dass ich die Starke sein werde.
Wie sich das auf mein Leben ausprägte, kannst du dir wahrscheinlich denken – meine Beziehungen zu Männern… na ja, ich hasste schwache Männer. Und was glaubst du, wen ich immer angezogen habe?
Meine Schwester Maria erzählte mir später, dass sie das Essen manchmal vor ihm versteckt hatte – weil er nicht nur bei Oma gegessen hatte, sondern auch zu Hause alles leer machte, ohne etwas für die Kinder übrig zu lassen. Angeblich sei ich damals – mit zehn Jahren – ihr gegenüber als seine Beschützerin aufgetreten. Ich hatte mich tatsächlich gegen meine siebzehnjährige Schwester gestellt und ihr vorgeworfen, egoistisch zu sein, weil sie ihm das Essen vorenthielt. Man darf nicht vergessen, dass ich auch noch das Kind war, das immer sauber und zu essen hatte ... es gab Abneigung nicht nur meinem Vater gegenüber, ich war ja schließlich auch ein Grund für ihre Frustration ... Aber dieser Mut, mich so klar zu positionieren, erwachte damals in mir – mit zehn. Und während ich das hier schreibe, wird mir bewusst: Ich war noch mutiger, als ich es in Erinnerung hatte. Diese Erkenntnis schenkt mir ein tieferes Verständnis dafür, warum mir dieser Mut später wieder entzogen wurde. Ich sage ganz bewusst: entzogen. Denn ich wurde im späteren Leben auf einer anderen Ebene angegriffen – energetisch. Magisch. Und ich wusste es. Ich wusste sogar, von wem. Meine hellsinnige Wahrnehmung war schon immer da – auch wenn ich sie damals noch nicht in Worte fassen konnte. Doch diese Erkenntnis, dass mein Vater nicht das Vorbild war, das ich mir erhofft hatte, veränderte etwas in mir. Ich verlor den Respekt vor ihm – zumal diese Haltung von allen Seiten bestätigt wurde, sogar von meiner Großmutter. Meine Eltern wurden öffentlich als „Rabeneltern“ gebrandmarkt – und in gewisser Weise stimmte es ja auch. Durch diese Vorwürfe schwanden nicht nur Respekt, sondern mit der Zeit auch meine Liebe zu ihnen, zumindest dachte ich bis vor kurzer Zeit so ... Aus all dem begann eine zerstörte Beziehung zu wachsen, die sich über die Jahre zu einem richtigen Problem entwickelte. Ich sah meinen Vater meist betrunken und er übernahm keine Verantwortung für seine Kinder. Ob ihm bewusst war, dass seine Tochter eine vorbildliche Schülerin war und seiner Mutter so viel aushalf, weiß ich nicht. Ich wurde zur Helferin meiner Großmutter –im Garten, wo jeden Sommer Tag für Tag die Pflanzen gegossen werden mussten. Ich half beim Sägen des Holzes für den Winter, beim Pflücken der Früchte – Tätigkeiten, die ich oft hasste, und dann gemeinsam mit Oma erledigte. Und das habe ich immer dann gemacht, solange die anderen Kinder draußen spielen durften ... Bereits mit elf Jahren begann ich, meine eigene Wäsche zu waschen. Wir hatten keine Waschmaschine, also wusch ich jedes Kleidungsstück von Hand. Ich tat es mit Sorgfalt und Eifer, immer bemüht, ein Vorbild zu sein.
Und doch wurde mir ständig klargemacht, dass ich nicht genug war. "Ich liebe dich" hörte ich nie. Meine Großmutter war sehr sparsam mit Zuneigung, von Natur aus misstrauisch und von so viel Angst erfüllt, dass sie kaum ihre Liebe aussprechen konnte. Manchmal frage ich mich, wie ich es geschafft habe, so positiv zu bleiben. Viele Menschen verstehen nicht, woher ich meine Lebensfreude nehme. Meine Selbstliebe musste ich mir hart erarbeiten, und doch wusste ich immer, dass etwas Besonderes in mir steckte.
Meine Beziehung zu den Mitschülern war stets wechselhaft: Manchmal gehörte ich zur Clique, manchmal hetzte die ganze Gruppe gegen mich. Man hänselte mich auch wegen der getragenen Klamotten, die ich aus Deutschland trug. Unsere Verwandten schickten Pakete mit Süßigkeiten, Lebensmitteln und Kleidung – um meiner Großmutter zu helfen. Und so bekam ich auch alles, was mitgeschickt wurde, für mich. Ich war immer fasziniert von allem,was aus dem Ausland kam, und unendlich dankbar, dass mein Onkel und seine Familie uns so großzügig unterstützten. Das war keineswegs selbstverständlich, und diese Dankbarkeit bleibt bis heute, trotz aller Entwicklung in unseren Familien.
Gleichzeitig aber machte mich diese Andersartigkeit sichtbar. Ich fühlte mich nicht nur wegen meiner Kleidung fremd, sondern auch, weil ich bei meiner Großmutter lebte und nicht wie die anderen Kinder in einer klassischen Familienstruktur aufwuchs. Ich war einfach nicht wie sie. Damals wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dazuzugehören. Heute weiß ich, dass das Universum mich darauf vorbereitet hat, nicht dazuzugehören. Und heute bin ich sogar stolz darauf – ich lebe mein Leben bewusst so.
Diese Unsicherheiten wurden mir besonders bewusst, wenn wir einmal im Jahr Besuch von meiner Tante mit ihren Kindern bekamen. Sie lebten zwar ebenfalls in einem Dorf, aber viel näher an einer Stadt, und in meiner Vorstellung war ihr Leben moderner, lebendiger und selbstverständlicher als meines. Sie brachten immer die tollsten Spielsachen, die schönsten Klamotten mit, und ich sah in ihnen alles, was mir fehlte. Sie stammen aus einer stabilen Familie, wurden von beiden Elternteilen geliebt und umsorgt, und das spiegelte sich in ihrem Auftreten wider. Ihr Selbstbewusstsein wirkte für mich wie aus einer anderen Welt. Zumindest hielt ich es in diesem Moment für Selbstbewusstsein…Der Kontrast zwischen uns war spürbar, und er spiegelte sich in meinem eigenen Selbstbild wider.
Trotzdem verstanden wir uns gut, und ich liebte diese Besuche sehr. Das Haus war plötzlich laut, voller Leben, es wurde gespielt, gelacht und gestritten. Und umso trauriger und stiller wurde es, wenn sie nach einer Woche wieder fuhren. Dann musste ich mich wieder an die allgegenwärtige Ruhe gewöhnen, die mir damals so schwerfiel.
All diese Erlebnisse ließen in mir den Wunsch reifen, das Dorf unbedingt verlassen zu wollen. Ich spürte so klar, dass ich dort nicht bleiben konnte, wenn ich wachsen wollte. Und der einzige Weg, der mir offen stand, war über die Bildung. Nur wenn ich an die Universität ging, hatte ich eine reale Chance, mein Leben selbst zu gestalten und etwas anderes zu erleben als das, was mir im Dorf bevorstand. Deshalb wollte ich es unbedingt. Deshalb wares mein größter Traum, die Schule mit einem "roten Diplom" abzuschließen und dann zu studieren.
Meine Enttäuschung war umso größer, als meine Großmutter mir sagte, sie könne es sich nicht leisten, mich an der Universität anzumelden oder mich in die Stadt zu schicken. Das Geld war nicht da für diese Pläne. Man prophezeite mir, dass ich nach der 11. Klasse wohl nur einen Job im Dorf finden und wahrscheinlich schon sehr früh eine eigene Familie gründen würde… Schon damals war eine Familiengründung nie mein größter Wunsch und stand nie auf meinem Lebensresümé.
Das war auch ein Alptraum für mich: sich nicht weiterzuentwickeln – und je größer diese Vorstellung wurde, desto stärker wuchs in mir der Wunsch, so schnell wie möglich nach Deutschland zu kommen. Wir hatten längst die Anträge für die Spätaussiedlung eingereichtund auf eine Antwort gewartet.
Und in diesem Lebensabschnitt gab es nichts, was darauf hindeutete, dass ich eines Tageszur Heilerin werden würde oder meine spirituelle Entwicklung in den Vordergrund stellen würde. Ich hatte keine bestimmte Vorstellung, wie mein Leben aussehen sollte, aber ich wusste, dass ich auf gar keinen Fall im Dorf bleiben wollte. Dort gab es überhaupt keine Chancen für persönliche Weiterentwicklung, geschweige denn für irgendeine Verbindung zur modernen Welt, die mich so faszinierte – die Welt, die ich nur aus dem schwarzweißen Fernseher kannte ...
Umso größer war meine Freude in jener Nacht, als wir die Zusage erhielten: Im Jahr 2000 durften wir nach Deutschland einreisen.
Drittes Kapitel
Doch bevor ich über den Umzug spreche, möchte ich etwas anderes teilen.
Etwas, das mir bis heute tief unter die Haut geht: die Menschen, die ich zurücklassen musste. Noch bevor alles überhaupt beginnt.
Meine Eltern waren offiziell Lebenspartner, aber sie waren nicht verheiratet. Und genau das wurde später zu einer großen Hürde, als es darum ging, nach Deutschland auszureisen. Vieles musste geregelt, geklärt, geordnet werden. Und eine Sache war dabei besonders wichtig – eine Entscheidung, deren Tragweite mir erst viel später bewusst wurde: Meine Großmutter musste mich nach kasachischem Recht offiziell adoptieren. Nur so durfte ich das Land überhaupt ohne meine Mutter verlassen.
Denn meine Mutter und alle anderen Geschwister blieben zurück: Maria, Olga, und Valentina.
Meine Mutter wollte damals nicht mitkommen – Deutschland war nie ihr Ziel.
So sagte sie es.
Nicht, weil das Leben im Dorf schöner gewesen wäre.
Sondern weil sie keine wirkliche Vorstellung davon hatte, wie viel schöner ihr Leben sein könnte.
Es war ihre Unerfahrenheit. Ihre innere Begrenzung.
Und vielleicht auch eine stille Angst vor dem Unbekannten.Als dann der Moment kam – als mein Vater, meine Großmutter und ich aufbrechen sollten –
da wollte sie plötzlich doch mitkommen.
Doch da war es bereits zu spät.
Und ich hatte drei Schwestern, die ich zurückliess.
Mit der jüngsten teilte ich beide Eltern – mit den älteren beiden verband mich unsere gemeinsame Mutter. Und doch war da für mich nie ein „mehr“ oder „weniger“.
Geschwister sind Geschwister.
Wir alle wurden unter demselben Herzen getragen, und das war das, was für mich zählte, und immer noch zählt, heutzutage mehr als jemals zuvor.
Gefühlsmäßig machte ich keinen Unterschied. Ich liebte sie alle.
Und doch – auf einer tieferen Ebene, die sich nur schwer in Worte fassen lässt – war da eine besondere Schwingung zwischen mir und der Jüngsten: Valentina.
Nicht im Außen. Nicht in der Biografie. Sondern seelisch.
Es war, als ob ich wusste, dass sich unsere Seelen auf einer feineren Frequenz begegnen sollten –
doch diese Verbindung war nur ganz zart spürbar. Kaum greifbar. Und gerade deshalb so spürbar.Ich konnte es fühlen. Wie eine leise Erinnerung an etwas, das nie ganz gelebt wurde.
Man hatte uns sehr früh voneinander getrennt. Und nicht nur das – es war, als hätte jemand einen unsichtbaren Pfeil zwischen uns geschlagen, eine feine Trennlinie, die mit den Jahren immer schärfer wurde.Die Menschen im Dorf begannen, sich gegen mich zu stellen.
In ihren Augen war es meine Schuld, dass ich es besser hatte.
Dass ich mich – so dachten sie – für etwas Besseres hielt.Und wenn ich ganz ehrlich bin:
Ein Teil davon stimmte.
Nicht, weil ich mich über sie stellte –
sondern weil ich tief in mir spürte,
dass ich anders war.
Nicht nur anders als sie.
Anders auf einer Ebene, die älter war als Worte.
Es fühlte sich an, als wäre meine Seele in eine Ahnenlinie gepflanzt worden,
zu der sie nie ganz gehören sollte.Als wäre ich hier – und gleichzeitig nicht von hier.
Wie ein leiser Irrtum der Zeit.
Oder vielleicht eine bewusste Platzierung des Universums,
die mich daran erinnern sollte:
Du bist hier,
aber du bist nicht dieses Hier.
Ich spürte diesen Unterschied. Ich nahm wahr, dass mein Leben in manchen Dingen leichter war, strukturierter, vielleicht auch sicherer. Und irgendwo in mir begann ich zu glauben, dass ich deshalb zu einer anderen Welt gehörte. Einer, die nicht für alle da war – und die ich deshalb schützen musste. Auch vor ihr.
Ich hatte den Unterschied zwischen unseren Lebenswelten irgendwann erkannt. Ich spürte, dass ich etwas hatte, was sie nicht hatte – mehr Sicherheit, mehr Möglichkeiten, mehr Aufmerksamkeit. Und mit der kindlichen Härte, die entsteht, wenn man sich seiner Gefühle nicht bewusst ist, habe ich ihr genau das auch gezeigt. Nicht aus Bosheit, sondern aus einem verwirrten Bedürfnis, irgendwo dazuzugehören. Und ich glaubte, das „Dazugehören“ müsse man beschützen.
Besonders wenn unsere Verwandten zu Besuch waren, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt.
Nicht wegen ihnen – sondern wegen dem, was sie mitgebrachten.
Etwas in ihrer Gegenwart erinnerte mich daran,
dass es noch etwas anderes gab.
Etwas jenseits des Dorfes, jenseits der Enge, jenseits des Alltags.
Sie kamen von außen –
und allein ihre Anwesenheit öffnete in mir ein Tor.
Zu einer Weite, die ich bis dahin nur in meinem Inneren gespürt hatte.
In diesen Momenten wurde ich fast schützend um das, was ich war.
Um das, was ich fühlte, was ich ahnte.
Und manchmal wollte ich niemanden dabei haben.
Nicht einmal meine Schwester.Ich wollte dieses Gefühl ganz für mich.
Dieses heimliche Staunen.
Dieses leise Wissen:
Es gibt mehr.
Ich schloss sie aus. Nicht aus Kälte. Sondern weil ich ahnte, dass genau dieses Gefühl ein zarter Schlüssel war – zu dem, was einmal mein Weg werden sollte.
Sie blieb zurück… Mein Vater versprach ihr, dass er sie und meine Mutter später nachholen würde. Und das hat er auch getan – doch es hat fünf lange Jahre gedauert. Erst im Jahr 2005 durften sie schließlich nach Deutschland einreisen.
Aber zurück zu unserer Beziehung.
Wir waren nur ein Jahr auseinander – und sahen uns zum Verwechseln ähnlich. So sehr, dass man uns ständig verwechselte. Sie wurde oft „Irina“ genannt – und ich wurde genauso oft mit ihrem Namen angesprochen: Valentina.
Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich damals war, vielleicht fünf. Ich ging noch in den Kindergarten. Und ich erinnere mich an einen bestimmten frühen Morgen, an dem ich sie wie so oft auf dem Weg dorthin abholte.
Ich trat in den Raum, und meine Mutter war gerade dabei, ihr die Haare zu kämmen.
Aber es war kein zärtliches Kämmen.
Es war ein Ringen. Mit Kraft. Mit Wut. Ohne jede Einfühlsamkeit.
Meine Schwester, dieses zarte, viel zu schlanke kleine Mädchen, weinte. Sie weinte, weil das Kämmen ein Kampf war – nicht nur gegen das krause Haar, sondern gegen sie selbst.
Meine Mutter zwang sie mit fast schon kalter Strenge dazu, dieses grausige Haar zu „zähmen“. Und dabei sagte sie immer denselben Satz: „Terpi, kasak, atamanom budesh.“
Ein Spruch, wahrscheinlich aus alten sowjetischen Filmen. Er bedeutete sinngemäß: „Nur wer Schmerz aushalten kann, wird stark – und wird als Kasake anerkannt.“
Ein Satz wie eine innere Prägung. Hart. Ohne Wärme. Und ohne Raum für Kindsein.
An solchen Morgen gingen wir dann gemeinsam in den Kindergarten.
Ich weiß nicht mehr, ob ich allein war oder ob unsere Mutter uns brachte. Aber ich erinnere mich an diese Momente:
Man sah uns beide – und sprach uns manchmal mit den falschen Namen an.
Und schon damals konnte ich es kaum ertragen, wenn man meine Identität mit der einer anderen verwechselte.
Vor allem, wenn ich das Gefühl hatte, dass ich – im Vergleich – „mehr“ war. Mehr gesehen. Mehr gewollt. Mehr beachtet.
Heute frage ich mich:
Woher kam dieses Gefühl, dass ich aus „besseren Verhältnissen“ stammte?
Dass ich – obwohl wir doch zur selben Familie gehörten, aus demselben Blut, demselben Haus – irgendwie mehr war als sie?
War es die stille Erinnerung meiner Seele?
Eine Ahnung aus einem anderen Leben – vielleicht eines, in dem ich aus edlen, gebildeten, geistig reichen Kreisen stammte?
Oder war es das Bild, das die Menschen im Dorf von mir gezeichnet hatten?
Das Mädchen mit dem klugen Kopf, den guten Noten, dem glatten Haar und einem hübschen Gesicht.Vielleicht beides.
Aber eines weiß ich:
Meine Seele war verwirrt.
Sie wusste nicht, wohin sie gehörte.
Zur „besseren“ Gruppe, zu der man mich zählte – oder zu meiner eigenen Familie, zu meiner Schwester, mit der ich doch verbunden sein sollte? Wollte ich überhaupt zu der „besseren“ Gruppe gehören?
Und wer hat eigentlich bestimmt, welche Gruppe besser ist?
Wer hat sich das Recht genommen, über meine Zugehörigkeit zu entscheiden oder meine Gefühle deswegen zu manipulieren?
Diese Verwirrung trug ich über viele Jahre in mir. Eine stille, zähe Frage: Wer hat uns getrennt? Wer hat diesen Keil zwischen uns geschlagen?
Ich habe mir diese Frage mein Leben lang gestellt.Denn es gab Menschen – und ich nenne sie bewusst so: bestimmte Menschen – die es nicht verheimlichten.
Sie beneideten mich. Für meine schulischen Leistungen. Für mein Aussehen. Für mein Denken. Für mein „Herausstechen“.
Und sie hatten meine Schwester an ihrer Seite – eine stille, formbare, suchende Seele – und sie nutzten das aus.Sie brauchten nur ein offenes Ohr, ein kindliches Herz – und machten es zu einem Resonanzraum für Spott und Spaltung.
Sie zogen über mich her – und meine Schwester hörte zu. Immer wieder.
Ohne dass sie es je begriff.
Ich glaube bis heute nicht, dass sie versteht, was damals geschah.
Dass man uns absichtlich gegeneinander aufgehetzt hat.
Dass man ihre kindliche Wut, ihre Ohnmacht, ihr Gefühl von „Nicht-genug-Sein“ auf mich lenkte.
Und dass sie all das – Jahre später – in Form von Kälte, Ablehnung, manchmal fast Hass, wieder an mich zurückgegeben hat.
Wir hatten viele gemeinsame Freundinnen – wir waren ja fast gleich alt.
Und jedes Mal, wenn ich von den Mädchen ausgeschlossen wurde, weil ich irgendwie „anders“ war, wurde unsere Geschwisterverbindung instrumentalisiert.
Man nutzte sie, um auch sie gegen mich zu stellen.
Es war, als fänden andere eine perfide Freude daran, unsere Nähe zu spalten – um einen Schuldigen zu haben. Und der war schnell gefunden: ich.
Man warf mir vor, eine schlechte Schwester zu sein. Und dabei war ich selbst noch ein Kind.
Ein Kind, das längst selbst im eigenen Chaos stand, mit einem Herzen voller Fragen, mit viel mehr Verwirrung, als ich je zeigen konnte.
Ja, sie wuchs in Armut auf.
Aber sie hatte beide Eltern.
Und sie wusste – trotz aller Entbehrungen – wo sie hingehörte.Ich dagegen lebte in der Schwebe. Zwischen Orten. Zwischen Menschen. Zwischen Zugehörigkeiten.
Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, hat mich mein ganzes Leben begleitet.
Es saß in mir wie ein dunkler Schatten hinter der Brust – still, unsichtbar, aber immer spürbar.
Erst viel später, nach vielen Jahren, habe ich begriffen:
Mein Herz ist mein Zuhause. Und je schneller ich lerne, mit mir selbst klarzukommen,
je schneller ich verstehe, dass ich mir selbst genüge,
desto schneller kehrt Frieden ein. Und Freude.
Vielleicht kein lautes Glück. Aber ein leises, tragendes.Ich erinnere mich an sie in Momenten, in denen sie weinte.
Dann kam der Zorn meiner Mutter – unbarmherzig, gerichtet gegen jeden, der ihr wehgetan hatte.
Sie war die Kleinste, das Lieblingskind der Familie.
Und sie wusste es.
Oft spielte sie dieses Privileg aus,
inszenierte eine verletzte Miene, eine kleine Dramatik,
damit ich oder meine Geschwister die Konsequenzen trugen.
In meiner Erinnerung war sie das verwöhnte Baby, eine „Zicke“,
für die sich alles zu drehen schien.
Heute, aus der Rückschau, sehe ich, wie sich das alles geformt hat –
wie wir alle auf unsere Weise versucht haben zu überleben,
wie sich unsere Charaktere aus Schmerz und Schutz entwickelten.
Mein Vater hatte eine engere Verbindung zu ihr,
denn sie wuchs bei ihm auf.
Ich war oft die Schuldige,
diejenige, die angegriffen wurde.Vielleicht, weil ich laut war, weil ich da war,
weil ich mit meinem Licht zeigte,
dass nicht alles richtig war.
Dass sie Fehler gemacht hatten.
Dass ich anders war.
Und dieses Anderssein hat sie alle getriggert.Weil es diesen Unterschied immer gab, zeigte er sich auch in der Schule – im Außen, in der Art, wie wir uns präsentierten, und wie wir mit Menschen umgingen.
Jede von uns versuchte auf ihre eigene Weise, die Wunden der Kindheit zu überwinden.
Eine dieser Wunden war ich. Nicht, weil ich etwas Falsches getan hätte,
sondern weil allein meine Existenz ein Trigger war.Ich weiß nicht, ob sie dachte, dass mir alles leichter gefallen sei, weil ich immer satt und sauber war, oder weil ich nicht im Dreck aufgewachsen bin.
Doch die Wahrheit ist: Bis ich vier Jahre alt war, habe ich im gleichen Haushalt gelebt.
Wer sich mit Kinderpsychologie auskennt, weiß, dass die ersten sieben Jahre die prägendsten für die Entwicklung eines Kindes sind.
Und genau in der Mitte dieser Zeit, mit vier Jahren, erlebte ich einen tiefen Bruch: Ich wurde weggegeben. Von da an musste ich zwei Welten beobachten, fast wie Parallelwelten...Dieser Wendepunkt hat mein Leben grundlegend verändert.
Und all das, was danach kam, kann man nicht einfach mit „leicht“ oder „einfach“ beschreiben. Denn wahre Stärke wächst oft aus den tiefsten Wunden.
Je mehr ich gelobt wurde, desto mehr wuchs irgendwo tief in ihr – unbewusst – ein Schwesterhass gegen mich.Wahrscheinlich würde sie es nie zugeben, wenn sie diesen Text überhaupt liest.
Doch in den letzten Jahren hat sich oft gezeigt, dass meine Entwicklung, mein Weg und mein Leben sie sehr oft triggern.
Besonders, wenn andere Menschen sie nach mir fragen.
Es geht nicht immer darum, sie gegen mich aufzuhetzen.
Oft ist es sogar ein Lob, das mir entgegengebracht wird – für den Weg, den ich gegangen bin.
Und genau das schmerzt.
Deshalb war ich ihr nie böse dafür, wie sie sich fühlte. Ich wusste, woher es kam.
Und ich spürte, dass vieles davon eine fremde Energie war, die sich in ihr eingenistet hatte – besonders, weil sie immer eng befreundet war mit Menschen, die mich nicht mochten.
Es ist ein komplexes Geflecht aus Verletzungen, Loyalitäten und tiefen seelischen Dynamiken. Und ich nehme es an – mit Mitgefühl für uns alle.Und doch – wir beide hatten so vieles gemeinsam, wenn es um unsere Kindheit ging.
Vor allem darin, wie unsere Mutter uns bewusst ungepflegt ließ.
Wie wenig Fürsorge da war. Wie wenig echte, nährende Nähe.
Mir wurden oft Geschichten erzählt.
Zum Beispiel, dass ich als Baby immer nur auf dem Arm meiner Mutter einschlief – und sofort aufwachte, sobald sie mich in mein Bettchen legte.
Es passierte immer wieder.
Bis mein Großvater irgendwann bemerkte, dass etwas nicht stimmte.
Denn die Matratze, auf die sie mich legte, war nass.
Feucht vom Urin, den sie nicht gewechselt hatte.
Und jedes Mal, wenn sie mich in diese Nässe zurücklegte, wachte ich auf.
Kannst du dir vorstellen, was das mit einem Baby macht?Was es bedeutet, wenn die eigene Mutter keine Fürsorge zeigt?
Keine liebevolle Aufmerksamkeit?
Nicht einmal ein normales, sauberes Gefühl von Geborgenheit?
Ich wurde – als Baby – regelrecht trainiert, mich mit dem Geringsten zufriedenzugeben.
Mit dem, was eigentlich niemand verdient.
Und das hat sich tief in mein kindliches Bewusstsein eingebrannt.
Psychologisch ist es längst bewiesen:
Die Verbindung zwischen Mutter und Kind ist grundlegend – besonders, wenn es um Selbstliebe geht.
Wenn genau dort, wo eigentlich Wärme sein sollte, Kälte spürbar ist…
dann lernt ein Kind sehr früh, sich selbst gering zu schätzen.
Nicht bewusst. Sondern leise.
Im Nervensystem. Im Zellgedächtnis. In der Seele.
Es gibt viele Geschichten, die auch meine Schwester erlebt hat.
Eine davon ist besonders tief in mir geblieben.Sie war nur ein paar Monate alt, als sie einmal allein zu Hause gelassen wurde – mit einer Decke über dem Gesicht.
Zufällig kam meine Großmutter vorbei.
Sie hörte ein leises Stöhnen, suchte, und fand meine Schwester in ihrem Kinderwagen.
Sie zog das Kissen zurück – wir wurden als Babies mit einem Kissen zugedeckt, damit wir uns nicht bewegten und ganz still lagen.
Diese Erfahrung war für uns mehr als eine körperliche Einschränkung. Es war ein Moment, in dem wir unsere Freiheit verloren und ein tiefes Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust spürten. Ein schweres Kissen auf unserer kleinen Brust – das bedeutete nicht nur körperliche Enge, sondern auch das Gefühl, nicht gehört, nicht gesehen und nicht geschützt zu sein.
Solche frühen Erlebnisse hinterlassen oft unsichtbare Spuren in unserer Psyche:
Sie können Ängste und innere Blockaden erzeugen, die sich durch das ganze Leben ziehen. Das Vertrauen in uns selbst und in andere wird erschüttert, die Fähigkeit, Freiheit und Sicherheit zu spüren, wird beeinträchtigt.Ihr Gesicht war völlig nass – vom eigenen Atem, vom Schwitzen, vom Kampf.
Sie war fast erstickt.
Wahrscheinlich fehlten nur wenige Minuten.War es Gedankenlosigkeit?
Oder schon etwas anderes?
Man weiß es nicht.
Aber eins war klar: Man konnte unserer Mutter nichts anvertrauen.
Meine ältere Schwester erzählte oft, dass sie im Laufe ihres Lebens immer wieder Menschen begegnet ist, die ein ganz bestimmtes Verhaltensmuster zeigen – ein Muster, das uns noch aus unserer Kindheit bekannt war.
Was genau diese „Diagnose“ ist, lässt sich heute nur erahnen…Es ist nicht so, dass sie böse war, sondern dass ihre eigene Verletzlichkeit und Unsicherheit ihr Handeln bestimmten. Sie wurde nie untersucht. Aber das musste auch niemand.
Man fühlte es.
Auch mit einem ungeschulten Blick.Mein Vater hat sie oft „полоумная“ genannt, was so viel bedeutet wie halb-verstandesfähig. Ich habe oft gesehen, wie sie deswegen weinte. Das zeigt, wie sehr sie darunter litt und wie zerbrechlich ihre innere Welt war. Sie konnte aber auch so wütend werden, dass sie meinen Vater schlug – mit einer Kraft, die er oft an blauen Flecken spürte. Körperlich war sie unglaublich stark, eine Stärke, die wir alle von ihr geerbt haben.
Vielleicht sieht man es uns nicht sofort an, doch in unseren Körpern steckt eine große Kraft, die manche Männer durchaus neidisch machen könnte.
Und so wuchsen wir alle irgendwie heran – nicht umsorgt, sondern eher überlebt.
Ein Dasein, das mehr vom „Durchkommen“ als vom „Geborgensein“ geprägt war.Ja – ich hatte ähnliche Erfahrungen. Bei mir wurde es irgendwann besser, äußerlich.
Aber innerlich blieb ein anderes Trauma zurück. Eines, das sich lange in meinem Leben gezeigt hat – still, aber spürbar.Was ich damit sagen will: Wir kamen aus derselben Familie. Von denselben Eltern.
Und jede von uns hatte ihre eigene Wunde zu tragen.Und doch – ich war die, die gehasst wurde.
Nicht, weil ich etwas getan hätte.
Sondern weil ich anders war – und es ohne Scham präsentierte.
Weil ich mich von klein auf bemüht habe, immer besser zu werden.Ich gehörte nie wirklich dazu. Nicht damals. Und auch heute nicht.Und weißt du was?
Heute bin ich sogar dankbar dafür.
Denn dieser Weg des Nicht-Dazugehörens hat mich gelehrt, klar zu wählen.
Ich bin selektiv geworden.
Mit meiner Umgebung.
Mit den Menschen, die ich in mein Feld lasse.
Nicht aus Trotz.
Sondern aus Achtung – vor mir selbst.
Und so verließen wir Kasachstan. Ich – ohne meine Geschwister.
Nur mit meiner Großmutter. Und mein Vater.
Ein Teil der Familie blieb zurück.
Ein Teil meines Herzens auch.
Viertes Kapitel
Der 1. Dezember 2000 war der Tag, an dem wir unser Dorf in Kasachstan verließen. Ich erinnere mich bis heute sehr klar an diesen Tag. Für mich war er erfüllt von Vorfreude – endlich durfte ich die alte Welt hinter mir lassen. Ich war immer ein Mensch, der dem Neuen entgegengeht, geführt von der Sehnsucht nach Veränderung. Doch damals war es das erste Mal, dass ich wirklich alles Vertraute zurückließ, und ich hatte keinerlei Erfahrung darin. Und doch überwog in mir die Freude – sie war viel stärker als jede Traurigkeit. Ja, für einen kurzen Augenblick tat es weh, als ich mich von meinen Schwestern verabschiedete. Aber die Aufregung über das neue Leben war so kraftvoll, dass dieser Schmerz sanft in den Hintergrund trat. Wir machten uns damals gemeinsam mit den Kindern meiner Großmutter und ihren Familien auf den Weg. Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Bus. Flugtickets für uns drei – meinen Vater, meine Großmutter und mich – konnte sie sich nicht leisten. Das, was ihr nach dem Verkauf des Hauses und unseres bescheidenen Besitzes geblieben war, war sehr wenig, und einen Teil davon wollte sie für die ersten Schritte in der neuen Lebensphase zurückhalten. Also entschieden am Ende alle: Wir fahren mit dem Bus. Drei Tage unterwegs zu sein war ermüdend und zugleich unglaublich aufregend – besonders für uns Kinder.
Die Route führte durch Russland, Belarus und Polen. Im Bus waren viele andere Aussiedler. Manche hatten so viel Essen dabei, dass der ganze Bus vom Geruch nach gekochtem Huhn und Schweiß durchzogen war. Ich erinnere mich deutlich daran, dass ich neben einer Frau saß. Irgendwann, im Schlaf, legte ich unbewusst meinen Kopf auf ihre Schulter. Als ich erschreckt aufwachte, wollte ich ihn sofort zurückziehen – doch sie ließ mich still weiter schlafen. Diese kleine Geste hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt: ihre Bereitschaft, mich zu tragen, ohne ein Wort zu sagen. Meine Großmutter litt auf der Fahrt an stark geschwollenen Beinen – mehr als wir alle. Ich weiß noch, dass man das sogar bei unserer Ankunft in Friedland erwähnte. Zum Glück ging die Schwellung bald zurück.
Und schließlich kamen wir an: Friedland – ein Ort, den alle Aussiedler kennen und mit dem jeder seine eigenen Erinnerungen verbindet. Für mich war es etwas Wunderschönes. Zum ersten Mal sah ich ein anderes Land: fremde Häuser, Zäune, Straßen und Bäume. Alles war anders – und alles schien mir viel besser als das, was ich zuvor kannte. Ich war überwältigt davon, wie sehr sich die Welt von dem unterschied, was mir vertraut gewesen war. Es war, als hätte sich eine Tür geöffnet – eine Tür in eine neue Welt, die darauf wartete, entdeckt zu werden. Wir blieben dort ungefähr eine Woche – genau weiß ich es nicht mehr, die Erinnerungen sind verschwommen. Aber ich weiß noch sehr gut, wie aufregend alles war – einfach, weil es neu war. Wir lernten ein paar Menschen kennen und verbrachten unglaublich viel Zeit mit unseren Cousinen. Für uns, damals Jugendliche, war es eine besondere, fast blendende Zeit.
Es gab sogar einen Moment, in dem ich mich mit einer Cousine zerstritt. Bis heute habe ich keine Ahnung, weshalb es dazu kam und wer begann. Ich erinnere mich nur, dass sie plötzlich sehr aggressiv wurde und mich schlagen wollte – und ich stellte mich vor sie, bereit, mich zu wehren. Eine andere Cousine, die es immer genoss, Öl ins Feuer zu gießen, war an diesem Tag ganz in ihrem Element. Deshalb wundere ich mich bis heute, warum es am Ende nicht zu einer echten Prügelei wurde. Stattdessen blieb es bei einer heftig geführten, verbalen Auseinandersetzung. Heute, im Rückblick, sehe ich ein Muster, das sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht: Schon früh hatte ich Schwierigkeiten mit Mädchen – in diesem Fall sogar mit leiblichen Verwandten. Ein Thema, das immer wieder in mein Leben zurückkehrte.
Erst viel später, während meiner Ausbildung in der Numerologie, konnte ich verstehen, welche Rolle genau diese Erfahrungen spielten. Kinder, die im Februar geboren sind, begegnen oft schon von Kindheit an komplexen Themen in ihrer weiblichen Ahnenlinie. Ihre Aufgabe ist es, diese Muster zu durchbrechen und zu heilen. Oft bedeutet das, dass sie viel Zeit bei den Großmüttern verbringen und schwierige Beziehungen zur Mutter oder zu Schwestern haben. Mir wurde klar, warum es in unserer Linie so viel Neid, Missgunst und verborgene Konflikte zwischen Frauen gab. Ich erkannte: Diese Seelen entschieden sich, mir als Auslöser zu begegnen, damit ich bewusst auf meine Ahnenthemen blicken und sie heilen konnte. Meine Seele wählte diesen Weg…
Nach einer Woche in Friedland wurden wir nach Wolfsburg geschickt. Die Kinder meiner Großmutter wurden auf benachbarte Städte verteilt. So sehr sie auch bat, dass wir alle an einem Ort bleiben dürften – dieser Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Und sie erinnerte sich bis zuletzt daran, nahm es jener Frau übel, sprach über sie, kehrte immer wieder zu ihrer Kränkung und ihrem Zorn zurück. Leider war auch dies eine Qualität, die sich durch ihr ganzes Leben zog: Meine Großmutter konnte anderen Menschen schwer verzeihen und vergaß nichts. So wohnten wir – meine Großmutter, mein Vater und ich – mehrere Wochen bei der Schwester meiner Großmutter. Die anderen wurden vorübergehend in Unterkünften untergebracht, bis sie eigene Wohnungen erhielten.
Die ersten Tage in Wolfsburg waren für mich voller Aufregung und Neugier. Alles war neu: die Produkte in den Läden, das ungewohnte Essen, das lebendige Stadtleben, so anders als bei uns auf dem Land. Besonders freute ich mich über die Toilette in der Wohnung – etwas, das ich zuvor nur aus Filmen kannte. In unserem Dorf konnten sich das nur wenige Familien leisten, und solche galten als wohlhabend. Für uns war es normal, draußen zur Toilette zu gehen oder nachts den Eimer im Haus zu benutzen, den man morgens hinter den Schuppen brachte. Gerade solche Kleinigkeiten, scheinbar ganz alltägliche Details, versetzten mich in echte Begeisterung. Man kann sagen, dass das Materielle, der Hauch von Luxus und Bequemlichkeit schon damals eine besondere Anziehungskraft auf mich ausübten. Alles Neue und Ungewohnte erfüllte mich mit Freude und Neugier, die stärker waren als jede Wehmut über das Vergangene.
ch erinnere mich gut an meine erste Schule in Deutschland. Es war eine Realschule im selben Viertel, in dem wir damals lebten. Nach meinen Noten hätte ich auch aufs Gymnasium gehen können. Aber da ich kein Englisch konnte – die erste Fremdsprache am Gymnasium –, entschied man, mich auf die Realschule zu schicken. Dort wurde Russisch als Fremdsprache angeboten. So wurde meine Muttersprache plötzlich zum „Fremdsprachenfach“. Heute kommt mir das fast absurd vor. Die Entscheidung über meine Schule traf nicht ich, nicht einmal meine Großmutter. Sie sprach nur Plattdeutsch und konnte solche Angelegenheiten nicht regeln, deshalb übergab sie die Verantwortung einer entfernten Verwandten. So entschied die Tante, dass für mich die Realschule „ausreichend“ sei und nicht das Gymnasium. Viele Jahre später begriff ich, dass man hätte einen Nachhilfelehrer nehmen können, um Englisch zu lernen, dass man es auch an der Abendschule hätte lernen können. Genau das begann ich dann mit 18 Jahren zu tun…
Ich verstand, dass wir im Leben nicht immer die volle Unterstützung erhalten, auf die wir hoffen. Doch gerade darin verbirgt sich ein Geschenk: die Kraft, den eigenen Weg selbstbewusst und eigenständig zu gehen.
So wechselte ich nach dem erfolgreichen Abschluss der Realschule aus eigener Kraft ins Gymnasium. Heute weiß ich: Jede sichtbare Grenze führte mich nur tiefer in meine eigene Stärke.
Die Schulzeit war insgesamt recht angenehm. Ich erlebte nie Spott oder Ablehnung nur deshalb, weil ich nicht aus Deutschland stammte. Dort lernten viele Aussiedler und Kinder von Migranten, und gerade das machte jedes Kind auf natürliche Weise angenommen. Ich hatte darin Glück. Unter den russischsprachigen Jugendlichen fand ich schnell Freunde. Man nahm mich in ihre Kreise auf, und die meiste Zeit verbrachte ich mit ihnen. Das gab mir Halt und ein Gefühl von Zugehörigkeit, bis ich ins Gymnasium wechselte.
Schon damals wusste ich, dass ich an die Universität wollte. Damals träumte ich von Architektur, weil ich mir nichts vorstellen konnte, das zugleich so kreativ und so angesehen war. Meine Entscheidungen wirkten reif, doch ich bewegte mich noch unbewusst – als ginge ich in eine Dunkelheit, in der ich erst später das Licht unterscheiden lernte.
Am Ende gehörte ich zu den besten Schülerinnen unter allen vier zehnten Klassen. Natürlich waren meine Noten schwächer als in Kasachstan, wegen meiner noch fehlenden Deutschkenntnisse, aber sie reichten völlig aus, um ins Gymnasium aufgenommen zu werden – und gleich in die 11. Klasse.
Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich nach der Ehrung als eine der Besten von der Bühne hinabstieg und der Direktor zu der Reihe ging, in der meine Großmutter saß. Er schüttelte ihr die Hand und dankte ihr dafür, dass sie eine so wunderbare Enkelin großgezogen habe, die es in nur zwei Jahren in Deutschland unter die Besten geschafft habe. Für meine Großmutter war das ein besonderes Zeichen der Anerkennung. Dieser Augenblick grub sich so tief in ihr Herz, dass sie sich noch viele Jahre später mit Stolz und Freude daran erinnerte. Es war ihr besonders teuer, eine solche Anerkennung fern der Heimat, in einem neuen Land, zu erleben.
Bevor ich von meinem Weg im Gymnasium erzähle, möchte ich etwas über meine Beziehung zu meinem Vater teilen. Mit dem Umzug nach Deutschland mussten wir in einer Wohnung zusammenleben – und ich sah mit eigenen Augen, dass er auch hier weiter trank. Der Staat zahlte ihm alle Bezüge, einschließlich meines Anteils, damit er unseren Lebensunterhalt sicherte. Aber er gab diesen Teil nie an meine Großmutter weiter, und sie war es, die mein Leben trug, während er dem Alkohol nachging. Die Nächte waren oft von Schreien erfüllt. Er brüllte, schimpfte, erbrach sich so laut, dass wir nicht schlafen konnten, lief manchmal nackt durch die Wohnung, und am Morgen behauptete er, es sei nie geschehen, und nannte uns Lügnerinnen. Wer mit Alkoholikern zu tun hatte, weiß, wie eng sich in ihrer Welt Wahrheit und Lüge verweben.
Am meisten verletzte mich, dass er plötzlich versuchte, in meine Erziehung einzugreifen. Ich war damals 15 oder 16 Jahre alt – und jeder Respekt vor ihm war bereits verschwunden. Die Vergangenheit, unsere ständigen Streitereien und Prügeleien, das, was er nun auch in Deutschland fortsetzte – all das ließ keinen Raum für Vertrauen. Wir stritten, es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen, und oft wurde die Toilette zu meiner einzigen Rettung, in der ich mich vor ihm einschloss. In seiner Wut riss er einmal sogar den Türrahmen heraus, um zu mir zu gelangen. In jener Zeit begriff ich, dass ich mich vor meinem eigenen Vater schützen musste – so, wie es niemals sein sollte. Ein Vater sollte ein Beschützer sein. In meiner Geschichte jedoch war er ein Angreifer, einer, der mich provozierte, um mir Energie zu entziehen. Und er tut es bis heute – nur bin ich jetzt stark und bewusst genug, ihm nichts zu geben. Wenn er in Raserei geriet, begann er, sich in die Hände zu beißen. Seit Kindheit lebte er mit einem nervlichen Leiden, mit dem er geboren wurde. In solchen Momenten schien es, als dränge ein Dämon aus seinem Körper, der sich auf mich stürzen wollte. Meine Reaktion darauf – damals fast die einzige – war völliger Ekel, eine Gegenwehr auf sein Wahnsinniges. Biergläser, Teller – alles, was ihm in die Hände fiel, flog. Der Grund war immer derselbe: Er verlangte Respekt, den ich ihm nicht mehr geben konnte.
Es war, als wolle er mir plötzlich die väterliche Rolle aufzwingen, die er nie ausgefüllt hatte. Mein innerstes Wesen rebellierte dagegen. In solchen Momenten wurde ich buchstäblich von einem Gerechtigkeitssinn erfüllt, den ich viele Jahre in mir getragen hatte. Ich hungerte nach Wahrheit und konnte mich nicht fügen, wenn Menschen Aufmerksamkeit und Respekt forderten, obwohl sie selbst keines von beidem zeigten – im Gegenteil, gegenteilig handelten. Hinzu kam, dass meine Großmutter im fremden Land noch ängstlicher wurde. Für mich bedeutete das noch mehr Einschränkungen und Verbote. Ich wollte Sport treiben, ein Hobby haben, mich entwickeln, doch oft wurde mir das verwehrt – teils wegen des Geldes, teils wegen ihrer Ängste.
Wir lebten zu dritt – drei Generationen in einer Wohnung, jede mit ihrem eigenen Charakter. Und mittendrin war ich, hungrig nach einem anderen Leben. Heute verstehe ich, dass es nicht nur die Lust auf Neues war, sondern ein tiefes Streben nach Freiheit, der Wunsch, aus dem Käfig auszubrechen. Damals hatte ich einige Freundschaften, aber keine davon ergriff mich ganz.
Es war eine Phase, in der ich mich in einer Entwicklung befand, die ich selbst noch nicht verstand, und in der ich viele ungesunde Muster übernahm. Weil mir weder die Großmutter noch der Vater Geld gaben, begann ich, bei Freunden zu leihen. Wenn man mich irgendwohin einlud und ich nicht gehen konnte, bat ich sie um Unterstützung. Ich wusste oft nicht, wie ich zurückzahlen würde, und doch gelang es mir immer irgendwie. Manchmal schenkte man mir Geld, manchmal half man mir anders, und ich konnte meine Schulden begleichen. Mein Vater gab mir damals 50 Euro „Taschengeld“. Für ihn reichte das – für Essen, Kleidung, Schulsachen und all meine Ausgaben. In Wirklichkeit sorgte jedoch meine Großmutter für all das. Vaters Geld war eher Symbol als echte Unterstützung. So lernte ich früh, Geld zu leihen – und ich begriff, dass es funktioniert, solange man zurückzahlt. Genau damals prägte sich in mir ein schweres Muster im Umgang mit Geld ein: Abhängigkeit, tief in unserer Familie verwurzelt. Während einer im Stamm mit Alkohol rang, trug ich die Last des Geldes.
Zugleich suchte ich Wege, unabhängiger zu werden. Mein Vater vertrank die Bezüge, die der Staat für mich zahlte. Das war unerträglich, und ich fasste den Entschluss: Ich will ihm diese Möglichkeit nehmen. So begann ich, an Wochenenden im Volkswagen-Werk zu arbeiten. Viele Schüler jobben dort, indem sie neue Autos reinigen. Für mich war es weit mehr als ein Nebenjob. Es war meine bewusste Entscheidung – auf eigenen Beinen zu stehen und meinem Vater das für mich bestimmte Geld zu entziehen. Und tatsächlich: Kaum hatte ich begonnen zu arbeiten, wurden die Zahlungen, die er gewohnt war für mich zu erhalten, eingestellt. Er explodierte vor Wut…
Die Arbeit wurde zu einer wertvollen Schule, auch wenn sie Zeit von meinem Lernen nahm. Aber sie gab mir das erste Gefühl von Selbstständigkeit und die Kraft, zu erkennen, dass ich mein Leben aktiv gestalten kann – trotz schwerer Umstände. Viele Jahre später, bereits im Numerologie-Studium, verstand ich, warum sich all das so stark zeigte. Es war nicht einfach „mein persönliches Problem“, sondern ein Ahnenthema. In unserer Linie traten Abhängigkeiten immer wieder auf – bei dem einen Alkohol, beim anderen Geld. Meine Seele wählte, da hindurchzugehen, um es zu erkennen, zu durchbrechen und zu heilen. Heute sehe ich klar: Was wie Schwäche schien, wurde in Wahrheit zum Beginn meiner Heilarbeit – für mich und für die ganze Linie.
Im Gymnasium begegnete ich meiner zukünftigen besten Freundin. Sie sprach mich im Russischunterricht an – ja, ich lernte weiterhin Russisch als Fremdsprache, und das war das einzige Gymnasium, das mich ohne Englischkenntnisse aufnahm. So entstand eine enge Freundschaft. Sie war eine leuchtende, interessante Persönlichkeit, und wir verstanden uns sofort großartig. Schon am ersten Tag stellte ich sie auf ein Podest. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen uns eine Dynamik, in der ich häufiger die Rolle der Folgenden einnahm und sie die dominante Position. Damals war ich unsicher, zu nachgiebig. Wir verbrachten elf wunderbare Jahre miteinander – voller Freude, Nähe und unvergesslicher Momente. Aber es war auch eine Phase meines Lebens, in der ich lernte, mich selbst besser zu verstehen.
Inzwischen wurde der Druck zu Hause immer stärker. Ich konnte es nicht länger ertragen. Mein Vater drehte durch, meine Großmutter kontrollierte immer mehr, und ich hungerte nach Leben. Ich war immer pflichtbewusst: lernte gut, half zu Hause, hatte nie mit Drogen oder ähnliches zu tun… Doch mein Wunsch nach Freiheit wurde ständig abgewiesen. „Kein Geld, dir passiert etwas…“ – so lauteten die Antworten. Am meisten zermürbte mich jedoch das Leben mit meinem Vater und die ständigen Verbote meiner Großmutter. Ich konnte dieses Tollhaus nicht länger ertragen – seine Ausbrüche, ihre Ängste, die Begrenzungen… Also wandte ich mich an die Jugendhilfe. Ich wollte eine eigene Wohnung. Doch meine Situation wurde nicht als „extrem“ eingestuft. Auch mein Vater wurde eingeladen, und wie immer spielte er seine Rolle perfekt: zu Hause der Teufel, nach außen der Engel. Man glaubte ihm mehr als mir. Nach außen wirkte er wie ein fürsorglicher Vater, und mich sah man als schwierige Jugendliche. Ich erhielt keine Hilfe…
Doch ich gab nicht auf. Ich suchte immer wieder Unterstützung, und am Ende gelang es mir über den Sozialamt. Nach mehreren Versuchen genehmigte man mir einen Betrag, mit dem ich ein Zimmer mieten konnte. So zog ich mit 19 aus. In der Nähe der Schule fand ich ein Reihenhaus, in dem Zimmer vermietet wurden, und eines davon wurde meines. Meiner Großmutter sagte ich es erst am Abend, am Tag des Umzugs. Ich wusste warum: Hätte ich es früher gesagt, hätte sie mich bis zuletzt „zuredegewaltigt“. Schon damals hatte ich ein feines Gespür für Menschen. Ich konnte ihr ständiges Nörgeln und jene negative Energie, die auch eine ihrer Kräfte war, nicht aushalten. Meine Großmutter konnte manipulieren, auf Gefühle drücken – und in so einer Situation wäre es für mich sehr schwer gewesen. Ich wollte mich nicht in eine Lage bringen, in der man mich „bearbeitet“, also beschloss ich zu schweigen bis ganz zum Schluss. Deshalb hielt ich es tatsächlich bis zum allerletzten Moment geheim. Und erst, als die Dinge gepackt waren und es kein Zurück mehr gab, sagte ich es ihr. Ich erinnere mich, wie schwer es für sie war. Später erfuhr ich von einer Cousine, dass meine Großmutter weinte und ihre Kinder anrief, um zu sagen, dass ich ausgezogen sei. Bis heute schmerzt es, zu spüren, wie tief sie das verletzte – den Menschen, der mich je am meisten liebte…
Selbst Jahre später behauptete sie, ich sei nur wegen meiner Freundin ausgezogen – dass gerade sie mich verändert habe. In Wahrheit war die Freundin nur ein Teil des Puzzles. Sie zeigte mir, dass das Leben anders sein kann, und an ihrer Seite konnte ich Neues ausprobieren. Doch die Entscheidung, das Zuhause zu verlassen, entsprang meinem inneren Drang – dem Durst nach Freiheit und dem Wunsch, meinen eigenen Weg zu gehen. Es war meine erste große Entscheidung – die Entscheidung, mich selbst zu wählen. Ich brauchte Stille, Frieden, einen Raum ohne Streit und Druck. Und selbst wenn meine Großmutter mir das nicht geben konnte, wusste ich: Ich kann es mir selbst schenken. Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Damals erkannte ich: Wir entscheiden unser Schicksal selbst. Ja, Entscheidungen können schwer sein, und ihre Folgen können wehtun. Doch am Ende liegt es in unseren Händen, das zu wählen, was für unsere Seele am besten ist.
So wurde mein Umzug zum Beginn eines neuen Kapitels. Zum ersten Mal lebte ich in meinen eigenen vier Wänden, frei vom Geschrei und vom Druck zu Hause. Ich setzte meine Schulzeit am Gymnasium fort und arbeitete, um für mich zu sorgen. Die Miete wurde zunächst übernommen, bis ich mehr verdiente. Ich jobbte in einer Eisdiele und hatte mein eigenes Geld. Es war der Beginn eines neuen Lebens – eines Lebens, das nicht immer leicht war, aber endlich wirklich meines.
Kapitel Fünf
Als ich auszog, begann ein neues Leben für mich. Es fühlte sich ungewohnt an – ein wenig ängstlich, auf einmal allein in einem Zimmer zu sein, allein zu leben, mit all der Verantwortung, die plötzlich auf meinen Schultern lag. Ich war noch sehr jung, aber ich nahm alles mit einem offenen, positiven Geist an. Ich träumte von einer weiten Zukunft, in der mir die Welt zu Füßen lag.
Meine Leistungen am Gymnasium waren nie besonders gut. Irgendwie schaffte ich es jedes Jahr, versetzt zu werden… Damals empfahlen mir viele, die 11. Klasse sie zu wiederholen.
Man sagte mir, dass es sonst kaum möglich wäre, das Abitur zu schaffen, wenn die Noten gerade so zum Weiterkommen reichten. Ich hörte auf diesen Rat. Ich hatte niemanden in meiner Familie, der mir etwas empfehlen oder zeigen konnte, denn niemand war bisher so weit gekommen.
Und ja – meine Leistungen waren nicht die besten, aber sie waren gut genug, um am Gymnasium zu bleiben. In einigen Fächern, besonders in Italienisch, war ich sogar sehr gut. Sprachen lagen mir immer. Doch in allem anderen tat ich mich schwer – aus vielen Gründen.
Einer der Gründe, warum ich mich in der Schule so schwer tat, war die Sprachbarriere. Ich war schüchtern geworden, meldete mich kaum mündlich.
Und wer das deutsche Schulsystem kennt, weiß, dass die mündliche Note oft sechzig Prozent zählt – die schriftliche nur vierzig.
So war ich schriftlich vielleicht durchschnittlich, aber mündlich – ein Desaster. Nicht, weil ich nichts wusste, sondern weil ich unsicher war.
Jemand, der früher lebendig und offen war, wurde plötzlich leise.
Ich hatte Angst, Fehler zu machen, Angst, ausgelacht zu werden, wenn ich etwas Falsches sagte.
Ich war irritiert, wie selbstverständlich andere mit Stolz und Lautstärke ihre Meinung äußerten – ob sie richtig war oder nicht, spielte kaum eine Rolle.
Hauptsache, man war laut, selbstsicher.
Dafür wurde man gelobt – nicht unbedingt für das, was man sagte. Das erschütterte mein Selbstbewusstsein tief.
Doch genau dort begann etwas Neues.
Diese Unsicherheit war der Anfang meiner inneren Reise – mich selbst kennenzulernen, meine Schwächen zu verstehen und meine Stärken zu entdecken.
Viele Jahre später verstand ich, dass meine Schüchternheit nicht nur aus Unsicherheit kam – sondern aus Scham.
Ich schämte mich für meinen Akzent.
Er war wie ein leises Zeichen meiner Herkunft, das mich immer verriet. Ich wollte dazugehören, „richtig“ klingen, so wie alle anderen.
Erst in Kanada begann sich das langsam zu lösen.
Ich investierte in Logopädie, um meinen deutsch-russischen Akzent zu minimieren. Und tatsächlich – solange ich im Raum des Logopäden saß, klang ich fast makellos. Doch sobald ich hinausging, in den Alltag zurückkehrte, kam mein Akzent wieder.
Ich konnte ihn nicht kontrollieren – und irgendwann verstand ich, warum: Er war nicht mein Fehler. Er war ein Teil von mir.
Heute weiß ich: dieser Klang in meiner Stimme ist mein Abdruck, meine Geschichte. Man hört in jeder Sprache, die ich spreche, dass ich noch andere Sprachen in mir trage. Und genau das ist schön.
Ich würde es für nichts auf der Welt eintauschen.
Mein Akzent ist geblieben – doch meine Scham ist verschwunden.
Denn ich habe verstanden, dass man nicht angenommen wird, wenn man versucht, allen zu gefallen.
Man verliert sich selbst, wenn man sich anpasst, um „richtig“ zu wirken.
Ich habe aufgehört, meine Stimme zu verstecken.
Sie trägt meine Wurzeln, meine Erfahrungen, mein ganzes Sein. Und das, was ich dadurch gewonnen habe, ist unbezahlbar.
Das hier ist ein kleiner Appell:
Ja, du bekommst vielleicht nicht immer das, was du dir wünschst, wenn du etwas Neues anstrebst.
Aber manchmal schenkt dir das Leben etwas viel Größeres, als du es dir je erträumt hättest – dich selbst.
Ein weiterer Grund, warum meine schulischen Leistungen schwankten, war meine Arbeit. Oft arbeitete ich nach der Schule noch bis zu sechs Stunden. Ich lebte schon allein, und obwohl es ruhig war, endeten die familiären Streitigkeiten nie – selbst, wenn ich nur zu Besuch war.
Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, die sich tief in mir eingebrannt hat:
Ich brachte einmal meine Wäsche zu meiner Oma, weil es in meinem Zimmer und im ganzen Haus keine Waschmaschine gab. Ich hatte keine andere Möglichkeit, als mit der Hand zu waschen. Also dachte ich, es wäre praktisch, meine Sachen zur Oma zu bringen.
Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, die sich tief in mir eingebrannt hat:
Ich brachte einmal meine Wäsche zu meiner Oma, weil es in meinem Zimmer und im ganzen Haus keine Waschmaschine gab. Ich hatte keine andere Möglichkeit, als mit der Hand zu waschen. Also dachte ich, es wäre praktisch, meine Sachen zur Oma zu bringen.
Doch statt Verständnis erlebte ich eine bittere Enttäuschung. Mein Vater wurde wütend, warf mir vor, ihr Geld zu verschwenden – wegen des Stroms, den die Waschmaschine verbrauchte. Meine Oma versuchte, mich zu trösten. Sie sagte, ich solle nicht auf ihn hören und meine Sachen ruhig bringen. Aber ich war zu stolz. Ich tat es nie wieder.
Diese Szene hat mich tief verletzt. Noch viele Jahre später erinnerte ich mich an diesen Moment – an die Kälte, die ich gespürt hatte, an das Gefühl, wieder einmal allein zu sein.
Von da an brachte ich meine Kleidung in die Reinigung. Das kostete natürlich Geld – also musste ich mehr arbeiten, um es mir leisten zu können. Später kaufte ich mir einen kleinen Eimer und begann, meine Sachen selbst zu waschen, trocknete sie in meinem winzigen Zimmer. Ich kämpfte, so gut ich konnte.
Manche würden vielleicht sagen: „Wenn du schon ausgezogen bist, musst du auch Verantwortung übernehmen.“ Ja natürlich…
Aber darum ging es nicht. Es ging darum, dass ich wieder einmal auf mich allein gestellt war. Es gab keine Situation in meinem Leben, in der ich wirklich Unterstützung von meinen Vater bekam. Im Gegenteil – später im Leben wurde sogar von mir erwartet, dass ich für ihn sorgen sollte.
Es gab noch einen anderen Grund für meine schwachen schulischen Leistungen. Irgendwo, unbemerkt, hatte sich eine Depression in mir eingenistet. Wann sie begann, wusste ich nicht genau. Ich kannte dieses Wort damals kaum – geschweige denn, was es bedeutete. Doch wenn ich heute zurückblicke, glaube ich, dass es mit etwa sechzehn, siebzehn Jahren anfing – in der Zeit, als ich in eine Essstörung, eine Art Bulimie, hineinglitt.
Ich lebte noch mit meiner Familie. Es war die Phase, in der junge Mädchen abnehmen wollen, in der unser innerer Blick sich immer stärker auf Schönheit richtet – auf das Bedürfnis, „gut genug“ zu sein, um geliebt zu werden.
Es ist das Alter, in dem die Psyche langsam lernt, dass Liebe oft an Bedingungen geknüpft scheint: schön sein, angepasst sein, stark sein.
Heute sehe ich so deutlich, wie viele Zeichen es schon damals gab, dass ich lernen musste, mich selbst zu lieben. Doch es gab niemanden in meiner Umgebung, der solche Dinge erkennen oder verstehen konnte. Ich musste alle Phasen meiner inneren Entwicklung ganz allein durchleben. Und natürlich wurde das, was man nicht verstand, bestraft.
Meine Oma bemerkte irgendwann, dass ich nach dem Essen immer auf die Toilette ging. Sie wusste nicht, warum. Ich übergab mich regelmäßig – steckte mir die Finger in den Hals, um das Gefühl der Kontrolle zurückzugewinnen, das mir überall sonst fehlte.
Doch anstatt Hilfe zu bekommen, wurde ich getadelt. Sie warf mir vor, Essen zu verschwenden – und damit Geld.
So kämpfte ich nicht nur mit einem inneren Schmerz, sondern auch mit Schuldgefühlen und Vorwürfen.
Das Schlimmste war, dass bald die ganze Verwandtschaft davon wusste. Ich wurde ausgelacht, beschämt, gedemütigt.
Einmal, als ich für eine Woche bei meinem Onkel zu Besuch war, wurde nach dem Essen die Tür zur Toilette abgeschlossen. Als ich fragte, warum, wurde mein „Problem“ vor allen angesprochen. Ich fühlte mich bloßgestellt – und von meiner Oma verraten.
Es war, als gäbe es in dieser Familie kein Geheimnis, das geschützt blieb. Alles wurde weitergetragen, besprochen, ausgeschlachtet – und irgendwann gegen mich verwendet. Meine „Schwächen“ wurden zum Gesprächsthema, meine Verletzlichkeit zur Schande.
Rückblickend glaube ich, dass genau in dieser Zeit meine Depression wirklich Form annahm.
Damals war mir das alles nicht bewusst. Erst später, als ich auf dem Gymnasium war und der Druck von allen Seiten zunahm, begann ich, Panikattacken zu bekommen – besonders während der Vorprüfungen fürs Abitur.
Meine damalige Freundin erzählte ihrer Mutter davon. Sie meinte, es klinge nach einer Depression, weil ich oft das Gefühl hatte, „unter einer Haube“ zu leben – als wäre alles um mich herum wie ein Traum, unecht, weit entfernt.
Also entschied ich mich, einen Neurologen aufzusuchen.
Doch die Sitzung war enttäuschend. Er hörte mir kaum zu, stellte keine Fragen, streckte nach ein paar Minuten die Hand aus, griff zum Rezeptblock und schrieb mir Antidepressiva auf.
Ich hatte das Gefühl, gar nicht gesehen zu werden – nur abgefertigt zu werden. Ich wurde mit einem Zettel hinausgeschickt, der meine Seele heilen sollte.
Ich nahm die Tabletten zunächst, aber ich wusste tief in mir: Das war nicht der Weg. Nach kurzer Zeit setzte ich sie wieder ab.
Ich erzählte meiner jüngeren Schwester davon – sie war damals schon in Deutschland. Sie lachte mich aus und meinte, ich sei verrückt, wenn ich schon Tabletten nehmen würde. Ich erinnere mich, wie weh das tat. Wie einsam es sich anfühlte, nicht verstanden zu werden – von niemandem.
In jener Zeit machte ich auch meinen Führerschein. Es dauerte lange – mit einer Pause von sechs Monaten, nachdem ich dreimal durch die praktische Prüfung gefallen war. Die Theorie bestand ich ohne einen einzigen Fehler. Doch die Umsetzung beim Fahren fiel mir schwer. Heute weiß ich, dass auch das mit meinem seelischen Zustand zusammenhing – mit der inneren Erschöpfung, dem Druck, den ich damals kaum tragen konnte.
Mein Fahrlehrer war zudem alles andere als freundlich. Er schrie mich oft an, machte mir noch mehr Angst, noch mehr Druck.
Und während ich das jetzt schreibe, wird mir bewusst, wie viele Schichten aus Stress, Angst, Überforderung und seelischem Schmerz ich damals in mir trug – ohne es zu wissen, ohne jemanden, der mir hätte helfen können.
Es war ein langer Weg, bis ich meinen Führerschein endlich in der Hand hielt. So viel Geld, so viele Stunden, so viele kleine Prüfungen – nicht nur auf der Straße, sondern auch im Leben selbst. Am Anfang wollte meine Oma mich nicht unterstützen. Sie sagte, sie würde mir kein Geld dafür geben, und fragte, warum ich das überhaupt machen wolle, wenn ich mir danach doch kein Auto leisten könne. Diese Worte waren nicht wirklich ihre eigenen. Sie waren eingeflüstert – von jemandem aus der Familie, jemandem, der sich, wie so oft, in Entscheidungen einmischte, die eigentlich nur mich betrafen.
Ich sehe das heute mit anderen Augen. Damals verstand ich es nicht, doch heute spüre ich, wie stark die Stimmen anderer meinen Weg mitgeformt haben. Später änderte meine Oma ihre Meinung. Sie half mir – übernahm die Hälfte der Kosten, und ich war dankbar dafür.
Mein Vater trug, wie so oft, nichts dazu bei.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, fühle ich beides: Dankbarkeit und dieses leise Ziehen in der Tiefe, wo sich ein Muster zeigt, das sich damals schon abzeichnete. Zu viele Einflüsse von außen, zu viele Menschen, die glaubten, sie wüssten, was richtig für mich sei. Und doch war ich immer diejenige, die – trotz allem – ihren eigenen Weg ging. Vielleicht nicht laut, aber entschlossen.
Heute, viele Jahre später, höre ich manchmal, dass all das gar nicht so gewesen sei. Dass man es anders erinnert. Und jedes Mal spüre ich, wie Wahrheit sich verändert, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet. Jeder trägt seine eigene Version der Geschichte. Aber meine lebt in mir – leise, klar und wahrhaftig.
Vielleicht ist es genau deshalb, dass ich heute Gespräche anders führe. Ich erzähle meine Seite nicht mehr, um etwas richtigzustellen, sondern um anderen Menschen zu zeigen, dass sie aus meiner Erfahrung auch was im Alltag anwenden können. Ohne Kampf, ohne Verteidigung. Einfach so, wie sie in mir geworden ist. Vielleicht ist das auch der Anfang von Vergebung für dich – nicht nach außen, sondern nach innen.
Natürlich war nicht alles grau in jener Zeit.
Es gab auch viele Momente, in denen ich das Leben spürte, in denen ich lachte, tanzte, träumte. Ich war jung – und all die Reize, die das Jugendalter mit sich bringt, gingen auch an mir nicht vorbei.
Damals begann ich, mich sehr bewusst zu kleiden. Mein selbst verdientes Geld aus der Arbeit in der Eisdiele steckte ich in Kleidung – in kleine Dinge, die mir das Gefühl gaben, dazuzugehören. Ich glaubte, dass mich das schöner machte, vielleicht sogar liebenswerter. Dass ich dadurch ein Stück näher an das herankäme, was „normal“ war.
Und ja – der Satz „Kleider machen Leute“ stimmt auf eine gewisse Weise. Doch sie heilen die Seele nur oberflächlich. Für den Moment. Wirklich genährt wird sie erst dann, wenn wir beginnen, nach innen zu schauen und dort zu investieren.
Aber zu jener Zeit war Mode mein Ventil. Mein Ausweg. Ein Weg, meine inneren Konflikte zu übertönen, indem ich mich nach außen zurechtmachte.
Auch das Feiern gehörte dazu – ab und zu in Diskotheken, manchmal mit einem Drink, manchmal mit einer Zigarette. Ich war nie jemand, der täglich rauchte oder trank. Es war mehr ein Teil des sozialen Dazugehörens, eine Phase, in der man einfach mitmachte, weil es sich normal anfühlte.
So vergingen meine Jahre am Gymnasium – zwischen Schule, Arbeit und kleinen Ausflügen ins Nachtleben, meistens mit meiner besten Freundin an meiner Seite.
Doch das Kapitel endete anders, als ich es mir erhofft hatte.
Ich bestand mein Abitur nicht. Ich fiel in drei Fächern durch – nur in Italienisch, meinem Herzensfach, war ich gut. Eine Woche später hätte ich die Möglichkeit gehabt, Nachprüfungen zu schreiben. Doch ich entschied mich dagegen.
Ich glaubte nicht daran, in einer Woche das aufzuholen, was mir in den vergangenen Jahren entglitten war. Tief in mir wusste ich, dass das Versagen nicht nur mit Lernen zu tun hatte – es hatte mit meinen inneren Verletzungen zu tun, mit der Müdigkeit meiner Seele.
Ich spielte die Coole, um nicht als schwach dazustehen. Ich tat so, als würde es mich nicht berühren – besonders vor meiner besten Freundin. Ich wollte keine Heulsuse sein.
Aber das war ein Fehler.
Ich hätte hingeschaut, gefühlt, verstanden. Doch ich drängte alles weg – wie so oft. Ich hielt es für besser, so zu sein, wie andere mich sehen wollten. Zumindest glaubte ich das damals.
Was für eine innere Blockade daraus entstand, sollte ich erst viel später verstehen. Du kannst es dir vorstellen – was es mit einem jungen Menschen macht, der früher in der Schule immer zu den Guten gehörte, und plötzlich scheitert.
In dieser Zeit geschah etwas, das mir bis heute in Erinnerung geblieben ist.
Eine Verwandte trat mir im Türdurchgang auf den Fuß – scheinbar zufällig, doch es fühlte sich nicht zufällig an.
Etwas in mir wusste, dass da mehr war, auch wenn ich es damals nicht verstand. Ich spürte, dass die Geste eine andere Bedeutung trug, etwas Energetisches, etwas Fremdes. Ich ließ es los, verdrängte das Gefühl, versuchte, mich nicht hineinzusteigern.
Erst viele Jahre später lernte ich, dass solche Handlungen in bestimmten Formen von schwarzer Magie als Ritual verwendet werden – um jemandem den Weg zu versperren, um seine Entwicklung energetisch zu blockieren.
In alten Überlieferungen und magischen Erzählungen gilt das bewusste Betreten oder Stellen auf den Fuß eines Menschen nicht als bloße Geste, sondern als symbolischer Akt. In vielen Kulturen stehen die Füße für den eigenen Lebensweg – für Bewegung, Entwicklung und das Voranschreiten der Seele. Sie tragen uns durch alle Phasen unseres Daseins, durch Freude, Schmerz und Wandlung.
Wenn jemand absichtlich auf den Fuß eines anderen tritt – sei es aus Neid, Macht oder alter Gewohnheit –, kann dies in volkstümlicher Deutung als Versuch verstanden werden, seinen Weg zu blockieren. Ein energetisches Zeichen, das den Fluss des Lebens behindern oder die persönliche Entwicklung bremsen soll.
Solche Vorstellungen finden sich besonders in den alten slawischen Traditionen der Zauberformeln und Beschwörungen, den sogenannten zagovory, aber auch in Fuß- und Spurmagie-Ritualen anderer Regionen.
Überall dort, wo die Erde als Trägerin unserer Wege verehrt wird, galt das bewusste Stören des Schrittes eines Menschen als Eingriff in sein Schicksal – ein Versuch, seine Richtung zu verändern.
Und als ich darüber erfuhr, wurde mir bewusst, dass genau das in jener Zeit geschah, als ich auf dem Gymnasium war – genau dann, als es mir am schwersten fiel, voranzukommen.
Doch jedes energetische Handeln trägt auch sein Gegenbild in sich – das Bewusstsein.
In dem Moment, in dem ich verstand, dass damals etwas gegen meinen Weg gerichtet war, begann sich in mir etwas zu lösen. Es war, als hätte ich endlich das Muster erkannt, das mich so lange unsichtbar gehalten hatte.
Mit Licht, mit Aufmerksamkeit und innerer Klarheit durfte ich Schritt für Schritt den Schatten auf meinem Weg verwandeln. Nicht durch Kampf, sondern durch Bewusstheit.
Ob man an solche Dinge glaubt oder nicht – für mich war diese Erkenntnis heilsam. Sie gab mir ein tieferes Verständnis für das, was einst unerklärlich schien.
Ich verstand, dass manche Wege sich nicht einfach schließen, weil wir versagen, sondern weil etwas – innerlich oder äußerlich – unseren Fluss blockiert.
Und doch: sobald das Bewusstsein erwacht, beginnen sich diese Wege wieder zu öffnen. Genau so geschah es bei mir.
Als ich begann, die Zusammenhänge zu sehen und mein eigenes Licht nicht mehr in Frage zu stellen, lösten sich Knoten, die mich jahrelang gehalten hatten.
Ich durfte erkennen, dass kein Schatten ewig ist – und dass selbst das, was uns aufhält, Teil unseres Erwachens sein kann.
Nach den Prüfungen entschied ich mich, wenigstens mein Fachabitur zu erlangen. Ich wollte mir selbst beweisen, dass all die Jahre des Lernens, des Kämpfens und Durchhaltens nicht umsonst gewesen waren.
So begann ich ein einjähriges Praktikum bei der gesetzlichen Krankenkasse – und konnte mein Fachabitur schließlich in Kombination mit meinen Zeugnissen vom Gymnasium bestätigen lassen.
Es war kein großer Triumph im äußeren Sinn, aber für mich war es ein stiller Sieg.
Ein Schritt, der mir zeigte, dass auch nach all den Rückschlägen etwas in mir immer weiterging. Dass mein Weg – so verworren er manchmal auch war – nie wirklich stehen geblieben ist.
Ich hatte gelernt, dass Erfolg viele Gesichter hat.
Manchmal zeigt er sich nicht in Noten oder Abschlüssen, sondern in der inneren Kraft, trotz allem weiterzugehen.
Fünf Jahre meines Lebens – für ein Fachabitur.
Fünf Jahre voller Prüfungen, Umwege, Erfahrungen und innerem Ringen. Fünf Jahre, in denen ich so oft scheiterte und doch jedes Mal wieder aufstand.
Zu diesem Zeitpunkt wurde mir auch klar, dass ich nicht alles studieren konnte, was ich mir einst erträumt hatte.
Ich akzeptierte es – nicht mit Resignation, sondern mit dem Gefühl, dass das Leben mich auf einen anderen Weg führen wollte. So entschied ich mich endgültig für eine Ausbildung.
In dieser Zeit lebte ich bereits mit meinem damaligen Freund in Braunschweig. Es war wieder eine ganz neue Phase meines Lebens – ruhiger, erwachsener, und doch voller innerer Fragen.
Nach all den Jahren des Kämpfens, des Suchens und des Scheiterns begann sich in mir langsam ein neues Bewusstsein zu formen.
Ich spürte, dass das Leben mich lehrte, Schritt für Schritt zu verstehen, dass nicht jeder Weg, den man sich vornimmt, wirklich der eigene ist.
Manchmal müssen Träume sich verändern, damit wir wachsen können.
Rückblickend würde ich diese Jahre als sehr prägend für meine Zukunft beschreiben. All das, was damals geschah – all die Prüfungen, das Scheitern, die inneren Kämpfe – sollte mich nicht brechen, sondern formen.
Ich sehe heute, dass genau diese Erfahrungen mich dorthin geführt haben, wo ich heute stehe.
Nein, ich bin nicht mit den besten Ergebnissen aus dieser Zeit hervorgegangen – zumindest nicht in dem Sinn, wie die Gesellschaft Erfolg misst.Nach 7 Jahren in Deutschland habe ich viel Wichtigeres bewahrt: mich selbst.
Damals habe ich nicht lange recherchiert, ob ich vielleicht doch mit Fachabitur Architektur studieren könnte. Heute frage ich mich manchmal, warum ich mir nicht mehr Mühe gegeben habe, das wirklich herauszufinden, denn es war möglich..Vielleicht lag es an all den Umständen, die damals über mir zusammenkamen – an der Erschöpfung, an den vielen Entscheidungen, die gleichzeitig getroffen werden mussten.
Und doch spüre ich: es war alles richtig so. Ich entschied mich, in dieser Richtung zu bleiben – und begann eine Ausbildung als technische Zeichnerin im Bereich Heizung, Klima und Sanitär.
Es war kein glamouröser Weg, kein großer Traum aus Kindertagen. Aber er war real. Greifbar. Und vielleicht war genau das, was ich damals brauchte – etwas, das mich erdete, nachdem so vieles zuvor unsicher und brüchig gewesen war.
Inmitten all des Nebels aus Lebensumständen, Konflikten und Unsicherheiten bin ich meiner inneren Stimme treu geblieben. Ich habe mich selbst nicht verloren. Und vielleicht war genau das der wahre Erfolg.
Denn so, wie das Leben mich immer wieder prüfte, hat es mich auch gelehrt, weiterzugehen – Schritt für Schritt, mit offenem Herzen. Immer vorwärts. No matter what.
Und so begann ich, diesen neuen Abschnitt anzunehmen – nicht als Ende, sondern als Beginn von etwas anderem.